Verlieren will gelernt sein

So erwachsen ist Deutschland noch nie mit Niederlagen umgegangen
VON STEFAN REINECKE

„Die Mannschaft hat alles gegeben. Aber es hat nicht gereicht.“ Das hat Rudi Völler gestern bei seinem Rücktritt gesagt. Traurig wirkte er, aber gefasst. Wir haben verloren – wegen Pech, wegen Unvermögen, weil die anderen halt besser waren. Und genau so scheint das nationale Kollektiv die Niederlage zu betrachten. Man leidet an diesem Scheitern gemeinsam und auf auf eine sehr vernünftige, erwachsene Art (zumindest jenseits der Redaktionszimmer der Bild-Zeitung). Niederlagen auf dem Fußballplatz sind offenbar keine nationalen Katastrophen mehr.

Vorbei die Zeit als Berti Vogts, wie 1998, sinistre Mächte für das WM-Aus verantwortlich machen musste. Und nichts von dem Absturz in die Depression nach dem schrecklichen 0:3 gegen Portugal 2000. Die Deutschen haben verlieren gelernt. Das zeigt auch der Rücktritt von Rudi Völler. Er will nicht mehr – und alle verstehen ihn. Nichts von der Häme, mit der Erich Ribbeck und zuvor Berti Vogts bedacht worden waren. Deutschland kann verlieren, ohne dass der emotionale Notstand ausgerufen wird. Das ist die gute Nachricht in der schlechten. Die Fähigkeit von Kollektiven, Niederlagen, die das eigene Selbstbild empfindlich stören, zu ertragen, ohne Revanchegelüste und den Zwang, Schuldige dingfest zu machen, zeigt ein erfreuliches ziviles Niveau an.

Zu totaler Zerknirschung besteht ohnehin kein Anlass: Nach welchen goldenen Zeiten sehnt man sich eigentlich zurück? In jenem melancholieumflorten Gestern war Westdeutschland doch der ewige Musterschüler Europas – strebermäßig erfolgreich, reich, arrogant und unbeliebt bei seinen Nachbarn. Die deutschen Fußballer kämpften regelmäßig Mannschaften nieder, die schöner, kultivierter und risikofreudiger als sie spielten. (1972 und 1974 waren Ausnahmen). Auch hartnäckige Fans hatten hin und wieder ein schlechtes Gewissen, wenn die Deutschen mal wieder im Elfmeterschießen England oder Frankreich nach Hause geschickt hatten. Die bundesrepublikanische Hybris, beim Bruttosozialprodukt und der WM zwanghaft Erster sein zu müssen, (und tiefst gekränkt zu sein, wenn das mal nicht klappte) war immer schon unangenehm. Und wohl die andere Seite eines tristen Minderwertigkeitsgefühls.

Faktisch ist das schon länger vorbei. Die Deutschen haben bei EM und in den Wirtschaftsstatistiken der EU keinen naturgegebenen Anspruch auf Sieg mehr. Zumindest beim Fußball dürfte sich das auch nicht so schnell ändern. Mit der Industriearbeit scheint in Deutschland auch der proletarische Volkssport Nummer eins auf dem absteigenden Ast zu sein. Die Jugend fährt lieber Skateboard. Die stählerne Verknüpfung von Nationalgeschichte und Fußball, die seit 1954 existiert, lockert sich.

Das Echo auf diese Niederlage zeigt, dass die Deutschen pragmatischer und gelassener geworden sind. Sie verstehen, dass sie nicht mehr die Besten sind – und auch nicht mehr sein müssen. Parallel dazu ist ein ebenso erfreuliches Verblassen der früher rituell alle Jahre inszenierten Feuilletondebatte, was eigentlich deutsch ist, zu beobachten. Auf der Liste der vom Aussterben bedrohten Diskurse steht auch der ewige „linke“ Gegenaffekt, der die deutsche Elf verlieren sehen will. Das antideutsche Ressentiment war stets eng an den verbohrten Nationalismus gekoppelt, als dessen Gegenteil es sich verstand. Beides gehörte lange zur mentalen Grundausstattung der Republik. Beides verschwindet nun. An seine Stelle tritt ein relaxter Wirklichkeitssinn, der die eigenen Omnipotenzträume ohne Hysterie mit der Einsicht in die eigenen Möglichkeiten abgleicht. Was soll daran falsch sein?

Genug der deutschen Niederlagen: Immer verlieren macht auch dumm
VON ROBIN ALEXANDER

Kein Tor gegen eine kleine baltische Baskettballnation schießen und dann gegen tschechische Ersatzspieler verlieren. Wer sich für Fußball interessiert, konnte schon verzweifeln an dieser deutschen Nationalmannschaft. Tat aber keiner: Niemand hat die Nacht durchdiskutiert, niemand hat sich betrunken. Wer noch einen Arbeitsplatz hat, erschien am nächsten Morgen frisch rasiert und pünktlich an diesem. Netzerdelling hatten das Desaster unmittelbar nach Abpfiff zur erwartbaren Normalität erklärt und damit den Ton vorgegeben: Mehr war nicht drin.

Als die Italiener rausflogen, maulten diese unsportlich über angebliche skandinavische Verschwörungen. Bei den Engländern muss man nach jeder Niederlagen fürchten, dass sie ein paar Kneipen zu Kleinholz verarbeiten. Die Deutschen aber gratulieren dem Sieger, erklären sich die Unausweichlichkeit der Niederlage und beginnen sofort ihre Verarbeitung. Wir sind gute Verlierer. Sehr gute Verlierer. Im Fußball mögen wird in Vorrunden scheitern. Im Verlieren sind wir Europameister.

Historiker berichten, es habe einmal eine Zeit gegeben, in der Deutschland das wirtschaftlich erfolgreichste Land in der EU gewesen sei. Zudem habe die deutsche Fußballnationalmannschaft bei Turnieren ständig technisch stärkere Mannschaften durch Rennen und Treten besiegt. Die wirtschaftliche Dominanz sei im Fußball fortgesetzt worden: Der Triumph von Disziplin und Kampfgeist über Individualität und Kreativität sei mit deutschen Siegen auf dem Fußballplatz gefeiert worden. Das sei von Oslo bis Sevilla allen auf die Nerven gegangen – und den besseren Menschen in Deutschland schließlich auch.

Vielleicht war das ja wirklich einmal so. Aber es ist in jedem Fall schon verdammt lange her. Dunkel erinnere ich mich an einen deutschen Sieg: 1990 gewann eine deutsche Mannschaft eine Weltmeisterschaft. Damals war ich vierzehn: Seitdem hat dieses Land eine Vereinigung erlebt, die im Westen niemand wollte und die im Osten niemanden glücklich gemacht hat. Ich habe an Universitäten studiert, die international nicht mehr konkurrenzfähig sein sollen. Angeblich ist nirgendwo die Wahrscheinlichkeit für junge Leute größer, trotz guter Ausbildung keinen Job zu kriegen als in Deutschland. Und das Wetter ist immer noch mies.

Stimmt schon: Immer siegen macht dumm. Immer verlieren aber auch. Seit ich denken kann, ist Deutschland an sich selbst enttäuscht. Selbst die Ironie, die letzte Phase vor der Verzweiflung, scheint mittlerweile aufgebraucht. Die objektiv falsche Vorstellung, alles ginge den Bach herunter, wird in diesem Land gepflegt. Gestern erschien der Stern mit dem Cover: „Wir sind besser, als wir glauben.“ So machen sich notorische Verlierer Mut.

Deutsche Niederlagen als Normalisierung zu beschreiben ist irrig: In der Krise wird Deutschland ja nicht europäischer. Im Gegenteil. Umfragen zeigen, unsere Nachbarn werden immer gelassener, wir werden immer selbstmitleidiger. Auch die Krise der Wirtschaft macht diese ja nicht den anderen, erfolgreicheren europäischen Ökonomien ähnlicher.

Wenn sich – wie angeblich in den fernen Zeiten der Erfolge – die gesellschaftlichen Verhältnisse tatsächlich auf dem Fußballplatz abbilden würden: Wo wird der deutsche Fußball denn normal? Es ist nicht normal, keine Stürmer zu haben, die Tore schießen können. Es ist nicht normal, dass Angst alle Kreativität erstickt. Europa wundert sich über Deutschland, das es immer weniger versteht: Wie sich dieses Land in seine Niederlagen fügt.