Die Ikonisierung zweier Leberflecke

„Sex ist ja völlig over“: Christina Paulhofer widerlegt mit Mavie Hörbiger als Lulu Moritz von Uslars These, die Welt drehe sich mehr um Liebe als um Sex. Hörbiger aber wird vor allem wegen ihres Äußeren angehimmelt

Da tanzt sie. Im knappen Kleidchen, an das sich die südlichen Ausläufer ihres blonden Kunsthaars schmiegen. Sehr knapp, sehr blond. Über zwei Stunden bleibt sie jetzt hier. Doch: Was geschieht dann? Was bleibt vom Theater, wenn der letzte Vorhang ruht? Im Zweifelsfall immer die Kritik. Im Falle von Christina Paulhofers Bochumer Inszenierung von Moritz von Uslars Lulu-Adaption bleibt aber vor allem eines: das Mädchen im knappen Kleidchen – die wunderbare Mavie Hörbiger.

Dass in Bochum ausgerechnet die Kleinste des Hörbiger-Clans als Lulu agiert, liegt auch darin begründet, dass sie früher bereits mit Paulhofer und von Uslar zusammen gearbeitet hat. Viel bedeutender aber ist, dass Hörbiger die Lulu nicht einfach nur spielt. Mavie Hörbiger ist, das kann man so sagen: Sie ist Lulu in Person. Im Internet suhlen sich ihre Fans in triefenden Liebesbekenntnissen, sehnen sich nach ihrer „zerbrechlichen“ Erscheinung, ihren „wunderschönen großen Augen“. Selbst die Leberflecke der „außerirdisch“ anmutenden Frau machen die Fans ganz rasend. Das platonische Stalking scheint hier bis in die letzte Haarwurzel vorzudringen: Die 24-Jährige wird porentief geliebt, begehrt, vergöttert – wie Lulu, diese zirzende Männermörderin. Letztlich ist es das, woraus Paulhofers Regie ihren Realitätsbezug saugt. Wenn irgendwann der Pagenkopf Hörbigers, der auch das Textbuch zur Aufführung ziert, als riesiges Plakat auf die Bühne schwebt, ist die Ikonisierung perfekt.

Wonach aber sehnen sich jene Herren, die sich an den Körper einer Unbekannten klammern wie an einen Grashalm im Auge eines Tornados? Kann Sex noch provozieren? Spielt der Akt der Geschlechter überhaupt (noch) eine Rolle? Für von Uslar angeblich nicht: „Sex ist ja völlig over“ heißt es im Text. Obschon Sex ganz offensichtlich ein glühendes Thema ist in einer ach so aufgeklärten Welt, die Janet Jacksons traurige Nippel zu einer beispiellosen Affäre aufbläht. Der Pop projiziert täglich, fast stündlich neues Nacktfleisch auf unsere Netzhäute. Nicht ohne Grund tauchen deshalb auch die Porno-Protagonistinnen des Jetzt in von Uslars Bearbeitung auf: Die Britneys und Christinas und wie sie alle heißen, die Sex-Appeal mit Schmollmund und Fingerlutschen vertauschen. Der so genannte Lesbenchor bleibt in Bochum genau so pseudoerotisch wie die eben Erwähnten. Nur Hörbigers Strahlkraft reicht weit über die jener putzigen Kinder hinaus. Das Stück geht, Hörbiger bleibt. BORIS R. ROSENKRANZ