Erschreckte Neulinge

Das Team von Herrn Bölts muss beim härtesten Radrennen der Welt Lehrgeld bezahlen. Von neun Gerolsteinern sind nur noch vier im Rennen

aus Bayonne SEBASTIAN MOLL

Zum zweiten Ruhetag in Pau am Rande der Pyrenäen war die Familie von Udo Bölts angereist und man verbrachte gemeinsam den Nachmittag unter den Pappeln im Garten des Mannschaftshotels. Sohn Jan tollte mit der Mutter herum, die Tochter Helena krabbelte auf Papas Arm. Das ist das Leben, das auf Bölts nach dieser Tour wartet, und so wie Bölts diesen Nachmittag genoss, wurde deutlich, wie sehr er sich darauf freut.

Die Art, wie seine 12. und letzte Tour de France läuft, macht dem Pfälzer den Abschied etwas leichter und bestärkt ihn darin, die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt getroffen zu haben: „So wollte ich meine letzte Tour nicht fahren“, geht er mit sich selbst ins Gericht. „Ich wollte nicht einfach nur nach Paris mitrollen, ich wollte mich schon das ein oder andere mal zeigen. Aber immer, wenn eine Gruppe attackierte und ich in der Nähe war, hatte ich einfach nicht die Beine dazu. Ich bin halt auch keine Maschine. Außerdem werde ich auch nicht jünger.“

Dass Bölts nicht die Vorstellung bietet, die er sich selbst vorgenommen hat, nimmt ihm beim Team Gerolsteiner niemand übel. Bölts radsportliche Verdienste sind über jedwede Kritik erhaben, und auch seinen Willen würde nie jemand in Zweifel ziehen. Die Uhr des 37-Jährigen läuft nun einmal ab, das ist halt so. Unzufrieden ist Teamchef Hans-Michael Holczer vielmehr mit anderen Fahrern. Dem Kapitän Davide Rebellin etwa, dem Vierten der Weltrangliste, der in den Pyrenäen vom Rad und in den Mannschaftswagen stieg. Von einem Platz ganz vorne in der Gesamtwertung hatte Rebellin getönt und sich dafür sogar per Höhentraining fit gemacht. „Dass von Davide dann überhaupt nichts zu sehen war, enttäuscht mich sehr“, sagt Holczer.

Rebellin, der bei Eintagesrennen zur absoluten Elite der Profiradler gehört, musste schmerzlich jene Erfahrung machen, die sein Teamchef als die wichtigste seiner ersten Frankreich-Rundfahrt bezeichnet: „Bei der Tour lernt man, was Radsport mit allerletzter Konsequenz bedeutet.“ Die Tour, das hat das Team Gerolsteiner erleben müssen, ist, was die Härte anbetrifft, mit nichts anderem im Radsport zu vergleichen. Erfolge die anderswo errungen werden, zählen in Frankreich im Juli nichts.

Das musste in der ersten Woche auch Sprinter Olaf Pollack erfahren, der über die Art und Weise, wie es hier auf der Zielgeraden zur Sache geht, regelrecht schockiert war. Das musste Vizewelmeister Michael Rich erleben, als es in die Alpen ging, und er gleich in den ersten Anstiegen abgehängt wurde und aufgeben musste. Das musste René Haselbacher erleben, der im Sprint von seinen australischen Kollegen so robust angegangen wurde, dass er schwer stürzte; der sich trotz böser Hautverletzungen durch die Berge quälte und dann doch aufgeben musste.

„Jeder hat bei der Tour einmal eine schwere Krise. Einen Tag, wo er denkt, es geht nicht mehr. Tour-Neulinge kriegen dann einen Schreck, weil sie nicht wissen, dass es trotzdem irgendwie weitergeht“, erklärt Udo Bölts die hohe Ausfallquote beim Team Gerolsteiner, das gerade noch mit vier von neun Mann im Rennen ist. Im Klartext heißt das: Quäl dich, du Sau!

Immerhin: Mindestens zwei Gerolsteiner-Fahrer haben sich bis jetzt gehalten. Georg Totschnig, der frühere Telekom-Mann und Fünfter des diesjährigen Giro d’Italia, liegt auf dem 12. Gesamtrang. Weder in Alpen noch in den Pyrenäen wurde der österreichische Meister wirklich abgehängt, und das, obwohl er im Hochgebirge eigentlich keine Mannschaft mehr um sich hatte. Und Uwe Peschel: Beim Zeitfahren von Cap Decouvert, das Ullrich gewann, hielt er lange die Bestzeit und schlug überragende Zeitfahrer wie Laszlo Bodrogi und David Millar. Erst Armstrong, Ullrich, Hamilton und Zubeldia konnten die Zeit knacken, die er vorgelegt hatte – Peschel wurde am Ende Sechster, doch im Getöse um Ullrichs Sieg ging das leider unter. So wie die Tour verläuft, wird das wohl auch am Samstag wieder passieren – selbst wenn Peschel sich noch einmal steigern sollte.

Das Abenteuer Tour war für die Gerolsteiner allemal lehrreich. Nach dem beeindruckenden Aufstieg aus dem Nichts zu einer Tour-Mannschaft in nur vier Jahren, hat es Teamchef Holczer und Sportdirektor Christian Henn gezeigt, wie weit es noch zu einem echten Spitzenteam ist. Um beim schwersten Rennen der Welt bestehen zu können, fehlt es vor allem an Personal – und das ist schwer zu bekommen. Zwar kommt im nächsten Jahr mit Danilo Hondo von Telekom ein Klassemann für die Sprints dazu. An einem guten Rundfahrer, der Totschnig ergänzt, fehlt es jedoch weiterhin. Jörg Jaksche wäre ein Wunschkandidat, doch der ist bei seinem Team ONCE einstweilen gebunden. Jens Voigt wäre ein weiterer Fahrer, den Holczer gern im blauen Trikot seines Sponsors sehen würde. Voigt musste in diesem Jahr zwar mit Magenkrämpfen aufgeben, aber das war das erste Mal in seiner Karriere; sonst kam der Berliner immer ins Ziel nach Paris. Und einer mehr, der ankommt, das wäre ja schon was.