Niedrige Schwelle

„Ab wann bin ich Alkoholiker?“ – schnellen und direkten Problemaustausch will seit März ein neues Online-Angebot ermöglichen

Die Onlineberatung hilft „Probleme zu umschließen“ – jedes lösen kann sie nicht

von Claudia Hangen

Es ist Mitternacht, als die 15-jährige Gesamtschülerin Steffi aus Wandsbek die Homepage der Stadt Hamburg besucht und das Internetportal der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung anklickt. Sie loggt sich im Feld „Gruppenchat“ ein und diskutiert mit den anderen Portalbesuchern Rose, Stefan und DeathSoul ihre Frage: „Ab wann bin ich eine Alkoholikerin?“

Seit März gibt es in den kommunalen Erziehungsberatungsstellen in Harburg und Wandsbek eine kostenlose Online-Beratung für Jugendliche und Eltern. Sie sind zwei von 40 bundesweiten Internet-Beratungsstellen, deren Träger die Bundeskonferenz für Erziehungsfragen ist. Diplompsychologe Ronald H. vom Jugendamt Wandsbek, der die Online-Beratung für Jugendliche betreut, beurteilt die Vernetzung als „gute Entscheidung“: Internetnutzer, aber auch Berater wie Ronald H. bleiben anonym und kommunizieren über Phantasienamen miteinander.

Steffi hingegen nutzt die Online-Beratung, um sich Klarheit über ihr Alkoholproblem zu verschaffen. Und auch dagegen, dass sie in der Schule keine Hilfe gefunden hat, protestiert sie im Chat. „Erst führt der Schulrektor mit mir ein ernstes Gespräch, dann sagt die Lehrerin auf der Straße: Steffi, kein Alkohol! Dabei trinke ich gar nicht so viel, die halbe Jugend draußen auf der Straße läuft mit ‘ner Pulle herum“, schreibt sie.

Während der dreimonatigen Projektlaufzeit gab es bereits 450 Anfragen bei der Netzberatung. Für die Nutzung des Online-Angebots gibt es verschiedene Gründe. Einerseits kann die Beratung über Knopfdruck jederzeit bequem von zu Hause aus in Anspruch genommen werden. Andererseits verringert die Methode die Hemmschwelle für einen direkten Problemaustausch. Gerade auch heikle Themen wie „sexueller Missbrauch, Suizidgedanken oder selbstverletzendes Verhalten“, so H., können anonym und ohne Angst angesprochen werden. „Die meisten Ratsuchenden sagen im ersten Satz: ‚Mir geht‘s beschissen.‘ Und im zweiten Satz: ‚Seit sechs Jahren werde ich sexuell missbraucht.‘ Beim Bürogespräch hingegen dauert es manchmal Tage, bis das Problem ans Licht kommt. Und häufig gibt es von den Ratsuchenden nur ein Schulterzucken.“

Innerhalb von 48 Stunden mailen die Sozialpädagogen und Psychologen ihre Anwort. „Eine dramatische Situation kann ich so besser nachvollziehen, als wenn ich erst nach Terminvereinbarung beim Besuch des Ratsuchenden in der Beratungsstelle von einem weit zurückliegenden Ereignis erfahre“, bilanziert Ronald H. seine Arbeit in Steilshoop. Obgleich jede Anfrage ernst genommen wird, prüft der Berater zuerst die Motivation, bevor er weiter gehende Hilfestellung leistet. Bei einer kürzlichen Anfrage – „kann man von petting schwanger werden?“ – dachte Ronald H. zunächst an einen Scherz und zog einen Kollegen zu Rate. In der Regel sind es aber ernsthafte Fragen, die ihm gestellt werden. „Eine Internetbenutzerin ritzt sich mit der Rasierklinge regelmäßig in die Beine“, erzählt H., „um sich von ihrer inneren psychischen Spannung zu befreien. Durch das Internet habe ich den Kontakt zu ihr aufgebaut und ihr angeboten, das offene Portal zu nutzen. Sie kann darüber testen, wie andere Eltern auf das Hautritzen reagieren.“ Wunder kann er in der Online-Beratung keine leisten, so manches Problem lässt sich im Netzkontakt nicht lösen. Die Online-Einzel- und Gruppenberatung hilft „Probleme zu umschließen“, für tiefer gehende Lösungsvarianten ist dennoch der Gang zur nächsten Erziehungsberatungsstelle ratsam, sagt Ronald H. Auch Wandsbeks Bezirksamtsleiter Gerhard Fuchs lobt das Projekt, das noch die nächsten 18 Monate hindurch läuft – mit Option auf Verlängerung. „Der teils von der Stadt Hamburg unterstützte Service ist eine additive Leistung“, sagt Fuchs. „Dabei ersetzt die Internetberatung nicht die Arbeit der Erziehungsberatungsstelle in Steilshoop, sondern ergänzt diese. Über das bundesweit vernetzte Medium erreicht man Menschen, an die man vorher nicht herankam.“

www.bke-jugendberatung.de