Manifeste in Versen

So publikumsfreundlich wie nie: Nach dem Besuch des Poesiefestivals geht es zur Beatnik-Party in die Lyrik-Lounge. Schön, dass Lawrence Ferlinghetti das noch erleben darf: Der Urvater des Beat ist nach 30 Jahren wieder in Berlin

Ferlinghettis Gedichte haben den Tod der Poesie überlebt

Damals schrieb man sogar Manifeste in Versen: In den Siebzigerjahren wandte sich der amerikanische Lyriker Lawrence Ferlinghetti in einem kämpferischen Gedicht an seine Kollegen und forderte sie darin auf, sich endlich einer breiteren Öffentlichkeit zuzuwenden. Ferlinghetti verspottete die „suicide lovers“ und „zen brothers“, die aus der Poesie eine Geheimlehre machten – und wandelte für sein „Populist Manifesto No. 1“ die berühmte Zeile aus Allen Ginsbergs „Howl“ ab: „We have seen the best minds of our generation / destroyed by boredom at poetry readings.“

Die Zeiten haben sich geändert. Zumindest hierzulande ist Lyrik in den letzten zehn Jahren erheblich publikumsfreundlicher geworden. Dichter wie Albert Ostermaier arbeiten hart am Popstar-Image, „spoken word“ hat die Lesebühnen erobert, und es gibt einige recht erfolgreiche Versuche, die weihevolle Dichterlesung ins Stadionrockformat zu überführen: Selbst wenn kaum ein Lyrikband häufiger als 500-mal verkauft wird, hat heute jede Stadt, die etwas auf sich hält, ihre „Lyriknacht“. In Berlin – think big – ist es das international ausgerichtete „poesie festival“, das die Literaturwerkstatt ab heute wieder rund um den Potsdamer Platz ausrichtet. Mit dabei ist in diesem Jahr Lawrence Ferlinghetti, Dichter, Verleger und Buchhändler. Und eine Legende.

Ferlinghetti ist mittlerweile 85 Jahre alt und gehört zu den letzten noch lebenden Angehörigen der „beat generation“. Nach dem Krieg gründete er in San Francisco die Literaturzeitschrift City Lights und den Buchladen „City Light Books“, der heute zu einer Art Pilgerstätte für die Fans der „beat generation“ geworden ist. Im hauseigenen Verlag erschien 1955 Allen Ginsbergs „Howl“, und Ferlinghetti musste sich als Verleger vor Gericht wegen der „Verbreitung von Obszönitäten“ verantworten. Zwei Jahre später erschien sein eigener, bis heute bekanntester Gedichtband „A Coney Island of the Mind“: einfache und direkte Verse, die mit Momentaufnahmen von Werbetafeln, Telefondrähten und vertrockneten Sonnenblumen durchsetzt sind und sich schließlich zu kleinen Beatnik-Märchen und Hipster-Tales fügen. Im Übrigen ist Ferlinghetti vermutlich einer der wenigen Lyriker, die ein längeres Gedicht über Unterwäsche geschrieben haben und solche und ähnliche Betrachtungen noch elegant mit einem Dylan-Thomas-Zitat verbinden können: „Do not go naked into that good night …“

Ferlinghetti, der immer noch bei „City Light Books“ hinter der Kasse steht, George W. Bush nicht leiden kann und gerade einen neuen Gedichtband unter dem Titel „Americus, Book I“ veröffentlicht hat, war seit dreißig Jahren nicht mehr in Berlin. Seine hierzulande erschienenen Bücher sind auch über Antiquariate nur schwer zu bekommen, und natürlich gibt es noch einige Gründe mehr, zu einer seiner beiden Lesungen zu gehen. Der wichtigste Grund ist allerdings der, dass man sich dort mit eigenen Ohren davon überzeugen kann, dass Gedichte wie die von Lawrence Ferlinghetti nicht nur den alle paar Jahre ausgerufenen Tod der Lyrik überlebt haben. Sie werden auch die neue Lebendigkeit der Poesie unbeschadet überstehen – selbst wenn sie zuweilen so seltsame Blüten treibt wie die Einladung, nach Ferlinghettis Lesung am Sonntagabend „in die Lyriklounge zur Beatnik-Party“ zu gehen. Das Gedicht über die besten Köpfe unserer Generation, die sich nicht bei Dichterlesungen, sondern auf Partys zu Tode gelangweilt haben, muss eben erst noch geschrieben werden.

KOLJA MENSING

Lawrence Ferlinghetti u. a.: heute, 20 Uhr, Potsdamer Platz. Ferlinghetti solo: „City Lights: Berlin – San Francisco“, So., 20 Uhr, HAU 2, Hallesches Ufer 32