: Sisyphos im Glück
Nach dem Erfolg im Elfmeterschießen gegen England und dem Erreichen des EM-Halbfinales lässt sich Portugals Trainer Felipe Scolari feiern wie ein populistischer Politiker auf Wahlkampftournee
AUS LISSABON MATTI LIESKE
Warum nur, warum hat die Uefa das Golden Goal abgeschafft? Es wäre alles so perfekt gewesen. Rui Costa, der Verfemte, von Trainer Felipe Scolari aus der Stammformation verbannt, von den Fans im eigenen Land ausgepfiffen und darob so ergrimmt, dass er nach seinem Tor gegen die Russen nur mit finster-trotziger Büßermiene ins Publikum dräute, schießt Portugal gegen England mit einem prachtvollen 16-Meter-Knaller unter die Latte ins EM-Halbfinale. Setzt damit den gerechten Schlusspunkt unter ein dramatisches Match zweier hervorragender Mannschaften, die sich mit völlig unterschiedlichen Mitteln 110 Minuten lang heftig bekämpft haben. Und erspart es den armen Engländern, noch einmal trügerische Hoffnung schöpfen zu dürfen, um dann in einem jener Elfmeterschießen zu scheitern, die ihnen immer so schrecklich danebengehen.
Doch das Golden Goal gibt es nicht mehr. So konnte Frank Lampard in der restlichen Zeit der Verlängerung noch zum 2:2 ausgleichen, und Rui Costa wurde mit seinem übers Tor gejagten Ball im Elfmeterschießen vom gepriesenen Erretter wieder zum profanen Unglücksbär, der Portugals Triumph noch einmal in Gefahr brachte. Nicht ganz so unglücklich freilich wie David Beckham, der nach seinem chaplinesken Auftakt-Elfmeter vom Donnerstag endgültig als Erfinder des eingesprungenen Strauchelstrafstoßes mit halber Schraube gelten darf. Vielleicht findet die Übung ja eines Tages Eingang in den Eiskunstlauf – als Beckham-Pirouette. Der Elfmeterpunkt, offensichtlich eine Mischung aus Sumpflandschaft und Wimbledon-Rasen am letzten Turniertag, wurde zunächst von Englands Kapitän ausgiebig beschimpft und erfreute sich dann großer Aufmerksamkeit der folgenden Kandidaten. Jeder suchte ihn gründlich nach weiteren Fußangeln ab und trat ihn mit der Sorgfalt eines Hofgärtners vom Buckingham-Palast fest, bevor er zum Vollzug schritt. Alles ging gut, außer bei Rui Costa und schließlich bei Vassell, der Portugals Keeper Ricardo Gelegenheit gab, nach erfolgreicher Parade den Golden Penalty zu versenken.
„Jedes Spiel ist ein Epos, es ist Geschichte, ist eine Schlacht“, hatte Scolari, Freund gewaltiger Worte, zuvor gesagt. Für sein Team ähnelte das Viertelfinale gegen England die meiste Zeit eher der Geschichte von Sisyphos. Nach drei Minuten durch einen üblen Fehler von Costinha, der den Ball in den Lauf von Owen verlängerte, in Rückstand geraten, rollten sie die Kugel immer wieder aufs Neue dem Tor der Briten zu. Jedes Mal entglitt sie ihnen jedoch kurz vor dem Ziel, sie wurden zurückgeworfen und mussten von vorn beginnen. Das taten sie variabel, versiert, schnell und gewandt, doch besonders gefährlich für „Calamity“ James, den englischen Keeper, wirkten sie nicht. Das lag vor allem daran, dass die beiden Leute, die vorrangig für das Heraufbeschwören torträchtiger Situationen zuständig waren, zu schlampig (Deco) oder etwas unglücklich (Figo) zu Werke gingen. Außerdem gelang es Ashley Cole, den listigen Cristiano Ronaldo in einem packenden Duell einigermaßen in Schach zu halten.
Wie schon in ihrem ersten Match gegen Frankreich versuchten die Engländer, das 1:0 über die Zeit zu bringen, standen sehr tief und kompakt in der Defensive und hofften auf einen Konter, um die Sache endgültig zu entscheiden.Wie schon gegen Frankreich ging diese Taktik schief. Es wäre auch sehr ungerecht, ein wenig banal und eines Epos ganz gewiss nicht würdig gewesen, wenn das 1:0 bis zum Schluss gehalten hätte. Doch Postigas Kopfballtor ließ Sisyphos ein einziges Mal den Gipfel seines Berges erreichen, das Drama konnte seinen Lauf nehmen.
„Um anzugreifen, brauchst du den Ball“, rechtfertigte Englands Coach Sven-Göran Eriksson mit seiner distinguierten Nüchternheit das genaue Gegenteil seines brasilianischen Widerparts auf portugiesischer Seite, die weitgehende Beschränkung seines Teams auf Defensive. Gegen die technisch versierten Portugiesen sei es normal, dass meistens diese Ballbesitz hätten. Darauf komme es jedoch nicht an, denn entscheidend sei es, klare Torchancen zu schaffen, „und davon hatten wir mehr“. Möglicherweise wäre seine Rechnung aufgegangen, hätte Wayne Rooney, der ideale Mann für ein solches Spiel, nicht frühzeitig mit Fußbruch vom Platz gemusst. Der für ihn ins Spiel gekommene Vassell konnte den 18-Jährigen keinen Augenblick gleichwertig ersetzen; dass er den entscheidenden Elfmeter verschoss, passte zum Gesamtbild.
Mehr Erfolg hatte, wie schon in den Partien zuvor, Felipe Scolari mit seinen Auswechslungen. Der für Costinha gekommene Simão gab die Flanke zum Tor des für Figo eingewechselten Postiga, und der für Miguel gekommene Rui Costa schoss das 2:1. „Glück oder gutes Coachen?“, wurde Scolari gefragt. „Alles Glück“, sagte er süffisant lächelnd, „aber mit diesem Glück habe ich 16 Titel gewonnen.“ Seine Mannschaft habe dringend ein Tor gebraucht, also habe er Angreifer eingewechselt. „Nach dem 2:1 hätte ich statt fünf Stürmern allerdings lieber fünf Verteidiger gehabt“, fügte er hinzu. Der Tobsuchtsanfall nach Lampards Ausgleich wäre ihm dann wohl erspart geblieben.
Was Scolari an überschäumendem Temperament besitzt, macht Eriksson mit Sachlichkeit wett. Undenkbar, dass der Schwede wie sein Kollege über den Platz rast, eine portugiesische Fahne in der linken Hand, eine brasilianische in der rechten, sich in die Traube der jubelnden Spieler wirft und sich mit ausgebreiteten Armen vom Publikum huldigen lässt wie ein populistischer Politiker auf Wahlkampftour. „Ich hatte gedacht, wir sollten in der Lage sein, das Semifinale zu erreichen“, sagte Eriksson, „es tut mir Leid für die Fans und die Mannschaft, dass wir es wieder nicht geschafft haben.“ Auch bei der WM war England in der Runde der letzten acht gescheitert – an Scolaris Brasilianern. Die Frage, ob er weitermacht, beantwortete Sven-Göran Eriksson mit einem klaren Ja. „Es gibt eine WM in zwei Jahren, und da möchte ich endlich auch mal im Halbfinale spielen.“ Mal sehen, wen Felipe Scolari dann trainiert.
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