ARBEITSZEIT: DIE TARIFPARTEIEN STREITEN UM DAS FALSCHE THEMA
: Starrer Blick auf die Stechuhr

Es ist eine Nachricht, die alle Ängste vor Globalisierung und EU-Osterweiterung zu bestätigen scheint. Nur zwei Monate nachdem die Europäische Union ihre Neumitglieder mit großem Pomp aufgenommen hat, verlangt der Wettbewerb der Standorte seinen ersten Tribut von den deutschen Arbeitnehmern: Die Belegschaft der beiden Siemens-Werke in Bocholt und Kamp-Lintfort muss fortan drei Stunden pro Woche zusätzlich arbeiten, damit die Münchener Konzernzentrale ihre Jobs nicht kurzerhand nach Ungarn verlegt. Dort locken nicht allein niedrige Löhne, sondern obendrein auch überaus günstige Steuersätze. Schließlich müssen die Magyaren etwa ihre neuen Autobahnen dank Brüsseler Subventionen nicht aus dem eigenen Staatssäckel bezahlen.

Weil aber eine Kürzung deutscher Löhne und Gehälter auf das Niveau von Krakau oder Debrecen selbst den deutschen Managern als kaum durchsetzbar erscheint, hat sich der Schauplatz des Gefechts auf das Gebiet der Arbeitszeit verlegt. Die Gewerkschaften haben das Thema mit ihrem missglückten Versuch vom Vorjahr, die 35-Stunden-Woche auch im Osten Deutschlands einzuführen, in höchst ungeschickter Weise selbst auf die Tagesordnung gesetzt. Und die Bosse tun jetzt ihrerseits so, als hänge das Wohl und Wehe der deutschen Wirtschaft von einer Rückkehr der West-Belegschaften zur 40-Stunden-Woche ab.

Damit verkämpfen sich die Tarifparteien bei einem Thema, das den Wettbewerb der Standorte ganz gewiss nicht zu ihren Gunsten entscheiden wird. Die Lohnkosten in den EU-Beitrittsländern liegen nach Schätzungen von Wirtschaftsforschern bei konkurrenzlosen 15 Prozent des deutschen Niveaus. Doch der Anteil der Lohnkosten am Endpreis eines Siemens-Handys beläuft sich ohnehin nur auf lächerliche 8 Prozent. Dass die Münchener sich schwer tun mit ihren Mobiltelefonen, liegt also ganz gewiss nicht an zu hohen Lohnkosten. Es liegt daran, dass sie neue Trends schlicht verschlafen haben. Dagegen hilft aber nur geistige Beweglichkeit, nicht der starre Blick auf die Stechuhr. RALPH BOLLMANN