Sind die Bremer Schüler wirklich so schlecht?

Die PISA-Studie hat die Bildungspolitiker aufgerüttelt. Aber was diese Studie uns genau zu sagen hat, darüber streiten die Gelehrten immer noch heftig. Wie dokumentieren hier ein Gespräch über das Thema zwischen Bildungssenator Willi Lemke und der Bildungsforscherin Prof. Petra Lietz (IUB)

„PISA ist eine Ohrfeige für Bildungspolitiker. Ich brauchte PISA nicht unbedingt, um die Probleme zu erkennen.“ Willi LemkeAuch glaube ich nicht, dass der Migrationshintergrund der Hauptgrund für die Bremer PISA-Ergebnisse ist.

Seit der „PISA 2000“-Untersuchung ist klar: Im internationalen Vergleich schneiden Deutschlands 15-jährige Schüler schlecht ab. Bei wichtigen Grundkompetenzen liegen ihre Leistungen im unteren Drittel des Teilnehmerfeldes. Wie die Ergebnisse von PISA richtig zu deuten und in politische Praxis umzusetzen sind, darüber unterhielten sich die Erziehungswissenschaftlerin Petra Lietz, Professorin an der International University Bremen (IUB), und Bremens Bildungssenator Willi Lemke (SPD) für das Magazin der IUB blue print. Wir dokumentieren hier das vond er taz moderierte Gespräch mit geringfügigen Kürzungen.

Frau Professor Lietz, Sie beschäftigen sich mit vergleichender Bildungsforschung, sowohl in Deutschland als auch international. Ist das deutsche Schulsystem von der PISA-Studie überrascht worden? Lietz: Eigentlich nicht. Die vergleichende Bildungsforschung hat in anderen Ländern 30 Jahre Tradition, wie in Australien beispielsweise. Deutschland hat auch schon vor PISA an international vergleichenden Bildungsstudien - der Reading Literacy Studie von 1990/91 und der Third International Maths and Science Studie von 1995 teilgenommen. Es wurde jedoch bezweifelt, dass solche Untersuchungen aussagekräftig sind. Auch waren früher in Deutschland derartige Studien nicht gewollt, nicht zuletzt weil die Bundesländer den Vergleich untereinander gescheut haben. Bei uns hält nun Einzug, was andere Länder seit Jahrzehnten praktizieren und das ist gut so. Nicht nur Deutschland allgemein, sondern auch speziell die Bremer Schüler haben laut PISA nicht besonders gut abgeschnitten. Sind die Bremer Schüler wirklich so schlecht, wie von der Studie behauptet? Lemke: Nein. Ich glaube, wir hatten hier in Bremen zum einen Probleme bezüglich der Einstellung zu solchen Tests. Viele Schüler haben mir auf Nachfrage erklärt, damals beim ersten Test sei nur gesagt worden: Füllt aus, was ihr könnt, und dann ist gut. PISA interessierte im Prinzip keinen. Die Wissenschaftler bestreiten allerdings, dass so etwas für die Ergebnisse eine Rolle spielt. Sie erwarten daher für Bremen auch kein besseres Ergebnis für die nächsten PISA-Tests dieses Jahr im Mai. Ich bin sehr neugierig, wie das diesmal ausgeht. Meine Überzeugung ist, dass wir deutlich bessere Ergebnisse bekommen werden.

Vor allem glaube ich aber, dass die Bremer Schüler, statistisch gesehen, eine deutlich schlechtere Ausgangslage haben, als in anderen Städten. Wir hatten bei den getesteten Schülern knapp 41 Prozent Schüler mit einem Migrationshintergrund. Ab 20 Prozent in der Klasse, so die Wissenschaftler, werden die Ergebnisse deutlich schlechter, auch die der deutschen Schüler. Man kann Bremen daher nur mit Großstädten vergleichen, in denen ein ähnlich großer Anteil der Schüler aus Migrantenfamilien und aus bildungsfernen Schichten kommt. Bremen lässt sich daher auch nicht gut mit Niedersachsen vergleichen. Die Schülerstruktur eines Flächenbundeslandes ist anders als die einer Großstadt. Ein Bundesland wie Bremen hat also gar nicht die gleiche Chance, genauso gute Ergebnisse zu erzielen, wie etwa das Bundesland Bayern? Lemke: Nein, wahrscheinlich nicht. Auch muss man all die anderen Faktoren berücksichtigen: die Schulstruktur, die Mittel, die Lehrerstunden, die Zufriedenheit der Lehrer, ihre Alterststruktur, die baulichen Bedingungen der Schulen. Das alles ist sehr komplex; die Daten der Bundesländer kann man nicht so einfach vergleichen. Wir können auch nicht jahrelang warten, bis alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Lietz: Ich würde mir gern zuerst die Daten ansehen, bevor ich so etwas beurteile. Die Komplexität der Faktoren sollte keine Ausrede sein. Auch glaube ich nicht, dass der Migrationshintergrund der Hauptgrund für die Bremer PISA-Ergebnisse ist. Es gibt Methoden, mit denen man Migratenanteil und sozioökonomischen Hintergrund berücksichtigen und herausrechnen kann. Dann sieht man, was die Studie unabhängig von diesen Faktoren aussagt. Ich habe bei anderen Untersuchungen zum Beispiel zeigen können, dass Leseverhalten bei Mädchen und Jungs, unabhängig von solchen Faktoren, generell unterschiedlich ist. Mädchen lernen Lesen mit Büchern, Geschichten. Jungs muss man anderes Material geben: Sport- oder andere Zeitschriften, die ihren speziellen Interessen entgegen kommen. Gefreut hat mich bei den Bremer PISA-Ergebnissen, dass die geschlechtsspezifischen Unterschiede geringer sind, als in anderen Bundesländern. Hat PISA überhaupt getestet, was Schüler an deutschen Schulen lernen? Lemke: Getestet worden ist: Können unsere Jugendlichen lesen? Verstehen sie das, was sie lesen und können sie daraus im Alltagsbereich Konsequenzen ziehen? Das sollten 15-Jährige Schüler gelernt haben. Eine der PISA-Testaufgaben handelte von einem Lastwagenfahrer, der ein Glas Wasser im Fahrerhaus hat und bremst. Die Frage war: Wohin schwappt das Wasser? Lernen Kinder so was wirklich im Physik-Unterricht? Lemke: Das mit dem Wasserglas habe ich im Auto mit meinem Fahrer getestet. Ich konnte die Frage auch nicht aus dem Stand aufgrund meiner Physikkenntnisse beantworten. Wir haben ein Glas Wasser mitgenommen, er hat auf die Bremse getreten - und dann haben wir gewusst, was passiert. Ich gehe aber schon davon aus, dass das, was getestet werden soll, vorher Gelerntes ist. Auch einen Fahrplan lesen, wie im PISA-Test verlangt, lernt man nicht direkt in der Schule. Das kann man nur mit gesundem Menschenverstand - wenn der in der Schule entwickelt worden ist. Lietz: Bei PISA ging es um Grundkompetenzen. Gefragt war nicht spezielles Wissen, sondern inwiefern Schüler lernen, Wissen aus verschiedenen Bereichen zu aktivieren, um eine neue Frage zu beantworten. Die getesteten 15-Jährigen sollen ja so weit sein, dass sie ins Arbeitsleben entlassen werden können. Die Analyse, ob Schüler so etwas wirklich in deutschen Schulen lernen, steht noch aus. Eindeutiges Ergebnis von PISA ist jedoch, dass diese Fähigkeiten bei allen Schülern, unabhängig von Schulform und Bundesland, unterhalb dessen liegen, was international möglich ist. Was kann man bildungspolitisch tun? Mehr Lehrer einstellen? Lemke: Nein. Das ist die Argumentation der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft, die kleinere Klassen und mehr Lehrerstunden fordern. Mit den vielen Lehrerstunden haben wir auch früher nicht erreicht, dass die Kinder mehr gelernt haben. Nein, wir geben das Geld ganz gezielt für Fördermaßnahmen aus. Lietz: Erst kürzlich, diesen April, wurde ja die IGLU-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung) veröffentlicht, die die Lesekompetenz von Kindern der 4. Klasse untersucht. In Deutschland wurde sie um die Analyse der Lernerfolge im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich ergänzt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Probleme, die die PISA-Studie aufzeigt, beim Übergang von Grundschule zur Sekundarstufe I entstehen. Unser Bildungssystem und die Lehrerausbildung sind darauf ausgerichtet, Schüler je nach Leistung verschiedenen weiterführenden Schulformen – Gymnasium, Real- oder Hauptschule - zuzuweisen. Die Ergebnisse der IGLU-Studie zeigen aber, dass den jeweiligen Schulformen Schüler mit sehr unterschiedlichem Leistungsniveau zugewiesen werden. Dadurch ergeben sich weit heterogenere Lerngruppen, als dies vom Schulsystem und den Lehrerenden erwartet wird. Das wiederum wirft didaktische Probleme auf. Lemke: Laut IGLU liegen die Bremer Viertklässler gar nicht so schlecht. Offensichtlich verlieren die Bremer Kinder also erst nach der Grundschule den Anschluss. Nach meinem Wunsch sollten sie daher länger in der Grundschule zusammen bleiben, etwa für sechs Jahre. Dann könnte gezielter über ihre Leistungsfähigkeit entschieden werden. Außerdem müssten die Lehrer an unseren Schulen viel gezielter individuell mit Schülern einer Gruppe arbeiten können. Hat die Bildungsbehörde nicht schon vorher viel von dem gewusst, was PISA und IGLU herausgefunden haben? Sind wirklich vollkommen neue Erkenntnisse gewonnen worden?Lemke: PISA ist eine Ohrfeige für Bildungspolitiker. Ich brauchte PISA nicht unbedingt, um die Probleme zu erkennen. Es ist aber auch eine Chance. Ohne die Ohrfeige wäre vielleicht weiter so gearbeitet worden, wie bisher und ich hätte keine 24 Mio. Euro für Bildung im Senat loszueisen können. Etwas bösartig vereinfacht: Die wissenschaftlichen Untersuchungen werden gebraucht, damit Politiker das, was sie vorher schon als richtig erkannt haben, auch umsetzen können... Lietz: Ja, es stimmt, dass PISA die öffentliche Diskussion grundlegend angestoßen und Bildung zu einem wichtigen Thema gemacht hat. Doch wir können nicht erwarten, dass diese erste Studie, bei der sich die Kultusministerkonferenz erstmals auf einen Bundesländervergleich eingelassen hat, alle Antworten gibt. Sie ist ein Anfang, der uns Basisdaten liefert. Mit diesen Basisdaten - und damit meine ich nicht nur die Leistungsdaten, sondern vor allem die zu Umfeld von Schüler und Schülerinnen und Schulen - können Ergebnisse zukünftiger Studien verglichen werden. Erst dann kann man abzuschätzen, inwiefern verschiedene Bildungsinitiativen und -investitionen die Schülerleistungen beeinflussen, welche sich lohnen und welche nicht. Es geht ja nicht primär um eine Länderrangfolge, sondern darum, in unserm föderalen System der Länder-Kulturhoheit voneinander zu lernen. Sonst ist der Sinn solcher Untersuchungen verfehlt! Fragen: kawe