Wem die Sekunde schlägt

Vor dem heutigen Zeitfahren am vorletzten Tag der Tour de France liegt Jan Ullrich 65 Sekunden hinter Lance Armstrong. Einer von beiden wird Laurent Fignon, dem knappsten Tour-Verlierer aller Zeiten, nacheifern und diesen Tag auf ewig verfluchen

Aus Bordeaux SEBASTIAN MOLL

Wenn dieser Tage ein Journalist auf Laurent Fignon zukommt, rollt der Tour-Sieger von 1983 und 1984 mit den Augen, denn er weiß schon, wie die Frage lauten wird, und er mag sie nicht mehr hören. Deshalb gibt er auch immer dieselbe Antwort: Er möchte nicht mehr über 1989 reden, sagt er, manchmal freundlich, manchmal barsch. Lange sei das her, lange vorbei und mit heute sowieso nicht zu vergleichen. Es ist 14 Jahre her, dass Fignon auf der letzten Etappe, beim letzten Zeitfahren die Tour verlor. 50 Sekunden Vorsprung hatte er vor der 24 Kilometer kurzen Prüfung von Versailles nach Paris. Danach hatte er acht Sekunden Rückstand auf den Amerikaner Greg LeMond. Fignon hat jenen Tag bis heute nicht verwunden.

An dem Mangel an Parallelen, den Fignon vorschiebt, kann es jedenfalls nicht liegen, dass er nichts mehr dazu sagen will. Das Duell zwischen Fignon und LeMond war ähnlich verbissen wie das zwischen Lance Armstrong und Jan Ullrich in diesem Jahr. Tausende von Kilometern fuhren sie Reifen an Reifen, Lenker an Lenker, und keiner mochte auch nur einen Zentimeter preisgeben. An manchen Tagen stieg LeMonds Kurs, wie beim Bergzeitfahren von Gap, in dem der Amerikaner 40 Sekunden auf Fignon gut machte. An manchen Tagen sah es dann wieder so aus, als sei Fignon der Bessere, wie in L’Alpe d’Huez, wo LeMond 50 Sekunden verlor.

Ähnlich spielen Armstrong und Ullrich seit dem Tour-Start Paternoster. Beim Prolog hatte Ullrich die Nabe vorn, in L’Alpe d’Huez hingegen verlor er auf Armstrong knapp eineinhalb Minuten. Die machte er jedoch beim Zeitfahren von Cap Découverte wieder wett und setzte am nächsten Tag, auf der ersten Pyrenäenetappe, mit einer Attacke noch sieben Sekunden drauf. In Luz Ardiden war Armstrong, vom Schock seines Sturzes befeuert, dann wieder der Stärkere. „Er hat mir nur 40 Sekunden abgenommen, nicht drei Minuten“, fasste Ullrich den Zwischenstand nach den Pyrenäen zusammen. Insgesamt liegt er vor dem heutigen Zeitfahren über 49 km von Pornic nach Nantes 65 Sekunden zurück und behauptet mit Fug und Recht: „Es ist noch nicht vorbei.“

Zumal Ullrich im ersten Zeitfahren Armstrong so eindrucksvoll überlegen war. In eleganter Haltung den Wind durchschneidend, mit ruhigem Oberkörper und rhythmischem Tritt, fuhr Ullrich scheinbar mühelos die 48,5 km in weniger als einer Stunde. Wie schnell er war, sah man, als er am Italiener Ivan Basso vorbeischoss. Basso, immerhin Siebter der Gesamtwertung, wirkte gegenüber Ullrich wie ein Briefträger mit schwerer Paketpost in den Satteltaschen. Armstrong hingegen stampfte regelrecht über den Parcours. Angestrengt, verbissen, fast wütend wirkte das.

Am Anstieg nach Luz Ardiden, behauptet Armstrong nun, habe er jene Harmonie der Tretbewegungen wiedergefunden, mit der er viermal die Tour gewann, die ihn in diesem Jahr jedoch lange im Stich gelassen hatte. Kein Tag vergeht seither, an dem er nicht betont, wie gut es ihm geht und wie wohl er sich fühlt.

Doch jenseits des Ballyhoo spricht tatsächlich einiges für den Amerikaner. Zum einen ist Ullrich im Zugzwang – schließlich hat Armstrong den Vorsprung. Zum anderen war Armstrong in der Vergangenheit im zweiten Zeitfahren der Tour stets stärker als im ersten. Im vergangenen Jahr verlor er das erste in Lorient gegen Santiago Botero. Das zweite in Macon hingegen gewann er überlegen.

Einen weiteren möglichen Vorteil für den Amerikaner gab Erik Zabel zu bedenken. In Nantes blase der Wind von Westen. Rückenwind, so Zabel, bedeute das, und Rückenwind begünstige den schwächeren Zeitfahrer. Zabel hält Ullrich für den stärkeren Mann, doch bei Rückenwind schlage sich der Unterschied in der Leistung nicht so stark nieder wie bei Windstille oder Gegenwind. Bringt Ullrich zehn Prozent mehr Kraft auf die Pedale, so die Logik, wäre er bei Windstille etwa zwei Minuten schneller. Bei Rückenwind hingegen nur eine – und das könnte am Ende den Ausschlag geben.

Den Ausschlag für LeMonds Sieg 1989 gab, dass sich der Amerikaner einer neuartigen Lenkerkonstruktion aus dem Triathlon bediente. Von derlei Revolutionen in der Radtechnik kann Armstrong nicht profitieren. Der Radsportverband UCI hat viele Neuerungen der vergangenen Jahre wie Vorder- und Hinterräder mit unterschiedlichem Durchmesser und unkonventionelle Rahmenformen wieder rückgängig gemacht. Obwohl ein ganzes Ingenieursteam bei Armstrongs Radaustatter Trek die Zeitfahrmaschine des Meisters konstruiert, ist der Unterschied zu Ullrichs Material minimal.

So wird heute der stärkere Fahrer gewinnen. Und der Unterlegene wird hoffentlich besser mit seiner Niederlage umgehen als weiland Laurent Fignon, der nach dem Acht-Sekunden-Trauma keinen einzigen nennenswerten Sieg mehr feiern konnte. Vielleicht mag er deshalb nicht über 1989 reden. Für Ullrich und Armstrong wünscht man sich hingegen, dass sie in 14 Jahren in Texas oder in Scherzingen zusammensitzen und in Erinnerungen an ihren großen Kampf schwelgen. Die Radsportfans werden das mit Sicherheit tun.