Kick it like Zlatan

Nach dem Erfolg gegen Schweden im Elfmeterschießen fragen sich die Niederländer, ob man besser mit dem Team von 1996 oder dem für 2012 ins anstehende Halbfinale gegen Portugal gehen sollte

AUS FARO MATTI LIESKE

Eins muss man Dick Advocaat lassen: Er hat Sinn für Traditionspflege. „Die erfahrenen Spieler haben bei mir Vorrang“, hatte er schon nach dem ersten, wenig versprechenden Match gegen Deutschland gesagt, und diesen Worten ließ er beim Viertelfinale gegen Schweden beherzt Taten folgen. Abgesehen von den drei Angreifern, begann der Coach der Niederlande mit der Mannschaft der EM 1996. Das ist, als hätte das deutsche Team in Portugal mit Helmer, Eilts, Heinrich, Kohler, Möller, Häßler und Sammer gespielt. Wobei fairerweise gesagt werden muss, dass die Holländer 1996 ein wenig jünger waren als ihre deutschen Kollegen und längst nicht diese Erfahrung hatten, die Advocaat schätzt. Auf der Bank blieben am Samstag weitgehend die Adepten der neuen Ajax- und Eindhoven-Generation, die Holland gegen Bertis Schotten zur EM schossen und gerade dabei sind, sich dem Vorbild der Seedorfs und Kluiverts folgend auf die europäischen Spitzenklubs zu verteilen. Die spielen dann wahrscheinlich bei der EM 2012.

Die einzigen jüngeren Vertreter, welche Gnade vor den Augen Advocaats fanden, waren Arjen Robben (20) auf dem linken Flügel und Andy van der Meyde (24) auf dem rechten, die Ruud van Nistelrooy (27), 1996 noch um ein weniges zu grün zur Teilnahme in England, in die Mitte nahmen. Dieser Angriff ist es vor allem, auf den die Niederländer, nachdem sie die Schweden im Elfmeterschießen besiegt haben, ihre weiteren Hoffnungen bei diesem Turnier gründen können. Die Elfmeter übrigens ließ Advocaat zum großen Teil lieber nicht von den 96ern schießen – böses Karma, nachdem die Niederlande in der Vergangenheit ihre drei Strafstoßentscheidungen bei Europameisterschaften allesamt verloren hatten. „Die Elfmeter waren bisher nicht unsere Freunde“, sagte van Nistelrooy, der erste Schütze, „zum Glück haben wir das gedreht.“ Dick Advocaat freute sich wie ein preisgekrönter Tulpenzüchter darüber, dass er die Strafstöße extra nicht hatte trainieren lassen. „Die Schweden haben sie geübt“, feixte er, „man hat gesehen, was dabei herausgekommen ist.“ In der Tat: Kick it like Beckham, hatte sich Zlatan Ibrahimovic gedacht, und den Ball übers Tor gejagt, womit das schwedische Unglück seinen Lauf nahm. Am Ende schoss noch Olof Mellberg fehl, bei Holland versagte nur Phillip Cocu, einer von 96, versteht sich.

Für die Schweden war dieses Finale bitter. Nicht nur Latte und Pfosten hatten Larsson und Ljungberg in der Verlängerung getroffen, die Skandinavier hatten auch über weite Strecken das von beiden Seiten mit großer Vorsicht geführte Match dominiert, das sich zunächst recht müde dahinschleppte. Nach der dramatischen Schlussphase der Gruppenspiele, wo der Zwang des Gewinnenmüssens die Trainer zum Risiko trieb, geht es ihnen in den K.o.-Spielen vor allem darum, kein Tor zu kassieren. „Unser Mittelfeld hatte Probleme, sich in die Offensive einzuschalten“, beschrieb van Nistelrooy das zögerliche Aufrücken und führte es freundlicherweise auf die Hitze an der Algarve zurück. Tatsächlich wurde die Partie in der zweiten Halbzeit, als die Temperaturen sanken, immer besser, richtig gut aber erst, als den Spielern aufging, dass einige von ihnen Elfmeter schießen müssten, wenn es beim 0:0 bliebe. Besonders die Holländer schienen angesichts der Schatten der Vergangenheit gar nicht begeistert von dieser Perspektive zu sein. Dennoch waren es die Schweden, die sich, besonders dank des großartigen Freddy Ljungberg, ein Übergewicht im Mittelfeld erspielten. Und hätte Ibrahimovic ordentlich mitgespielt, anstatt immer noch von seinem Tor gegen Italien zu träumen, wäre wahrscheinlich ein Treffer dabei herausgesprungen. Chancen hatten die Schweden auch so genug.

Den Niederlanden ist jedoch ein Luxus vergönnt, den kaum ein anderes Team besitzt: Sie brauchen das Mittelfeld für ihre Offensive nicht. Während andere Mannschaften viel laufen, sowie klug und fehlerfrei kombinieren müssen, um in aussichtsreiche Positionen zu kommen, reicht es bei Holland, den Ball irgendwie irgendwo der Obhut von Robben oder van Nistelrooy zu übergeben. Den Rest erledigen diese mit ihrer Eins-gegen-eins-Stärke allein. Fast alle Torgelegenheiten der Holländer waren nicht in Teamwork herausgespielt, sondern beruhten auf Einzelaktionen der beiden. Dieser Fähigkeit, aus dem Nichts gefährlich zu sein, ist es geschuldet, dass man die Niederländer trotz ihrer uninspirierten Vorstellung als Titelfavoriten nicht abschreiben darf.

Am Mittwoch bekommen sie es nun in Lissabon mit den Gastgebern zu tun, und wenn sie dort gewinnen wollen, müssen sie in jedem Fall viel, viel besser spielen als gegen die im Endeffekt biederen und ausrechenbaren Schweden. Es lässt sich nicht genau sagen, welche Winkelzüge Portugals Trainer Felipe Scolari wieder ausheckt, vermutlich jedoch wird sein Team ein ähnlich furioses Angriffsspiel aufziehen wie bei den Erfolgen gegen Spanien und England. Schwierig genug dürfte es für die Holländer sein, die portugiesischen Stürmer in Schach zu halten, doch wenn besonders Seedorf und Davids im Mittelfeld nicht wesentlich schneller, konstruktiver und kreativer auftreten, wird auch das Wundermittel Robben/van Nistelrooy nichts helfen, weil die beiden gegen die flinken Portugiesen mit ihrem avancierten Pressing den Ball gar nicht erhalten. Aber wer weiß: Vielleicht hat ja auch Dick Advocaat eine Überraschung im Hut und lässt anstelle seiner Traditionsmannschaft auf einmal das Team von 2012 auflaufen.