Vom Zittern der Alten

Krisentelefon für Gewalt in der Pflege

VON GABRIELE GOETTLE

Gabriele Tammen-Parr, Gründerin u. Leiterin d. Krisentelefons, Beratungs- u. Beschwerdestelle „Pflege in Not“ in Berlin. 1959 Einschulung in Rauschenberg/Hessen, 1963 Übergang a. d. Gesamtschule. Nach Realschulabschluss Studium d. Sozialpädagogik i. Darmstadt u. Berlin, Abschluss 1973. Nach div. Berufspraktika u. d. Geburt einer Tochter Beratungsarbeit f. pflegende Angehörige sowie Aufbau mehrerer Beratungs- und Familienzentren. Qualifizierung: Ehe- und Familienberaterin, Mediatorin. 1998 Idee und Gründung von „Pflege in Not“. Mitautorin d. Broschüre „Gewalt in der Pflege älterer Menschen“ (Bln. 2002). Gabriele Parr wurde 1953 in Bracht b. Marburg/Lahn als Tochter einer Schneiderin u. eines Verwaltungsangestellten geboren. Sie heiratete 1997 den Galeristen Tammen v. d. Galerie a. Chamissoplatz u. organisiert seit Juni 1999 die Arbeit v. Krisentelefon, Beratungs- und Beschwerdestelle.

Zirka eineinhalb Millionen alte Menschen werden als „Pflegefälle“ versorgt, 75 % davon zu Hause, 25 % in Heimen. Von den zu Hause Lebenden werden jährlich 600.000 Opfer von Gewalt. (Die Dunkelziffer wird wohl höher liegen, ebenso im Heimbereich.) Unter den im Heim gepflegten Alten werden 85 % unterernährt, 36 % leiden an einem Mangel an Flüssigkeitszufuhr, 25 % haben beginnende oder entwickelte Dekubitusgeschwüre, davon 5 % mit hohem Schweregrad. Mehr als 30 % der zu Pflegenden ist dement oder psychisch krank. Magensonden werden gelegt, um die Hilfestellung beim Essen einzusparen, Dauer-Blasenkatheder werden gelegt und Windelung wird aufgenötigt, um das Blasentraining und die Begleitung zur Toilette einzusparen. 400.000 freiheitsentziehende Maßnahmen wie Festbinden, doppelte Bettgitter, Verabreichung von Psychopharmaka (oft ohne richterliche Genehmigung) finden in den Heimen statt (so der Arbeitskreis gegen Menschenrechtsverletzungen). Die an den Alten begangenen Straftatbestände wie Nötigung, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Misshandlung Schutzbefohlener usf. werden in den seltensten Fällen geahndet. Im Durchschnitt werden 28 schwerst Pflegebedürftige von zwei bis drei Pflegekräften versorgt. Etwa 10.000 Menschen sterben bundesweit jährlich an mangelhafter Versorgung und Pflege.

Die Beratungs- und Beschwerdestelle „Pflege in Not“ befindet sich in der Zossener Straße 24 in Kreuzberg, gegenüber von der Marheineke-Markthalle, im begrünten Innenhof einer neueren Wohnhausanlage. Unter der Telefonnummer 69 59 89 89 sind täglich von 10 bis 12 Uhr (Mo.–Fr., ansonsten 24-stünd. Anrufsaufzeichnung) Rat und Hilfe erhältlich. Anrufen können die von Gewalt Betroffenen, aber auch in Konflikte verstrickte, pflegende Angehörige; Pflegepersonal; Freunde und Nachbarn.

Frau Tammen-Parr empfängt uns im ebenerdig hinter großen Glasscheiben gelegenen Arbeitsraum. Die Aktenordner aus fünfjähriger Tätigkeit ziehen sich an den Wänden entlang, im Regal blinken die empfangsbereiten Telefone, auf dem großen, ovalen Tisch liegt das Werbematerial für die demnächst stattfindende Benefizveranstaltung zum fünfjährigen Bestehen der Stelle. Dazwischen platzieren wir die Kaffeetassen.

Frau Tammen-Parr erzählt: „Wir sind eine unabhängige Beratungsstelle, leben sozusagen von Spenden, unser Träger ist das Diakonische Werk Berlin Stadtmitte e. V. Übrigens sind wir die einzige Beratungsstelle in ganz Berlin und Brandenburg, die sich mit Gewalt gegen Alte und in der Pflege befasst. Wir haben eineinhalb feste Stellen und zwei sehr engagierte Ehrenamtliche, und das bei 80.000 Pflegebedürftigen allein in Berlin. Das ist natürlich eine Katastrophe! Wir bekommen hier Anrufe aus allen Stadtteilen, aus allen sozialen Schichten. Allerdings von türkischen Bürgern hatten wir bislang nur zwei Anrufe, wir bräuchten also auch dringend eine Türkin, die hier am Telefon sitzt. Ich mache das alles mit meiner Kollegin, der Psychologin Dorothee Unger, die praktisch von Anfang an mit dabei war und das Ganze mit aufgebaut hat. Ich habe eine volle Stelle, sie eine halbe. Aber mit 1,5 Stellen können wir eben leider nicht die ganze Hauptstadt bewältigen. München z. B. hat immerhin sechs Kräfte, dafür gibt’s in den gesamten neuen Bundesländern nicht eine einzige! Dabei ist der Bedarf riesengroß. Aber die gesamte Problematik wird eben gerne, solange es geht, ausgeblendet, von allen. Gerade bei Ehepaaren ist ja vieles ganz auf diese Ehe zugespitzt, das ganze Leben lang, viele schieben ihre Pläne auf, sagen, später, wenn wir alt sind, dann widmen wir uns den Dingen in Ruhe, können lesen, können reisen – und plötzlich wird der Mann dann mit 55 oder 60 zum Pflegefall, Schlaganfall. Und dann passiert es, dass die Frauen 15 bis 20 Jahre lang pflegen und nichts mehr von all dem machen können, was sie sich mal vorgenommen hatten. Der Anteil der pflegenden Männer ist übrigens gering, aber er steigt, und er ist in den neuen Bundesländern wesentlich höher als in den alten. Aber die Regel ist eben die pflegende Frau. Und ich habe mit solchen Frauen gearbeitet und da war es dann vielfach so, dass sie zunehmend erzählt haben von Spannungen und Konflikten bis hin zu Handgreiflichkeiten. Ich habe mich damals umgehört, außerhalb dieses relativ kleinen Kreises, und ich habe festgestellt, es ist absolut verallgemeinerbar, alle erzählen eigentlich haarsträubende Dinge – teilweise wird da unsanft angefasst oder zu heiß gebadet, oder es wird auf den Ruf nicht mehr reagiert … Und so entstand eigentlich dann bei mir die Idee, diese Stelle zu gründen.

Und ich dachte, am besten ein Krisentelefon, denn die, die beispielsweise einen Dementen pflegen, die kommen ja von zu Hause gar nicht mehr weg. Die müssen einfach dann, wenn der Angehörige schläft, mal zum Hörer greifen und sagen können, so und so sieht’s bei mir aus, ich kann bald nicht mehr für mich garantieren. Und so ein halbes Jahr später kam dann natürlich die Problematik der Alten- und Pflegeheime massiv dazu. Heute ist es folgendermaßen: Etwa die Hälfte der Anrufe kommt bei uns an von pflegenden Angehörigen, die andere Hälfte aus den Heimen – aber eben nicht direkt von den Betroffenen, leider, denn die meisten alten Leute dort sind nicht in der Lage, selbst zum Hörer zu greifen – es rufen aber die Angehörigen an, die mit der Unterbringung und Behandlung so nicht einverstanden sind, die informieren uns über Mängel und Missstände. Oder es ist auch das Pflegepersonal, das anruft – die sind ja oft in einer Situation, die sie nicht mehr verantworten können – die sagen dann z. B.: ‚Also, ich stehe jetzt hier alleine mit 80 Heimbewohnern, verteilt über drei Stockwerke, meine Kollegin hat sich gerade krankgemeldet. Wenn jetzt oben einer klingelt und ich setz den auf den Topf, dann kann ich ihn frühestens nach einer Stunde wieder abholen …‘ Und nun bedenken Sie mal, wir haben in Berlin etwa 80.000 Pflegebedürftige, davon sind 20.000 in Heimen untergebracht, und 60.000 werden zu Hause versorgt, und davon wiederum erhalten 20.000 Hilfe von den Sozialstationen. Rund 40.000 werden ohne jede Hilfe von außen zu Hause gepflegt. Und die Pflege in der Familie ist damit natürlich auch am wenigsten öffentlich. Die Familien haben alle ihre kleinen Geheimnisse, die sie in der Regel lieber hüten. Es gibt auch kaum Forschung zu dem Thema. Aber bei denen, die sich an uns wenden, da bricht es eben heraus, die sagen dann, dass es zunehmend Aggression, Ekel, Abwehr gibt, mancher sagt auch, ich halte das nicht mehr aus – am liebsten möcht ich die die Treppe runterstoßen!

Aber das Gute, sag ich mal, an unserer Arbeit ist, dass die körperliche Gewalt relativ gering ist in der häuslichen Pflege. Die meisten Konflikte sind alt. Sie kommen wieder hoch bei der Pflege, in diesem engen Abhängigkeitsverhältnis unter anderen Vorzeichen, all die Verletzungen und Kränkungen von früher. Die ungeliebte Ehefrau soll plötzlich nur noch geben, geben, geben. Töchter oder auch Söhne sagen, die Eltern waren nie diese wertschätzenden, fördernden, liebevollen Eltern, ihnen war nichts gut genug. Nun haben sie vielleicht den Vater zu sich in die Wohnung genommen, kümmern sich um ihn, aber abends, wenn sie von der Arbeit kommen, sagt der Vater nur: ‚Na, kommst du auch mal vorbei!‘ Ein anderes Problem ist auch, wenn die Kinder anfangen müssen, Intimpflege zu machen, da gibt es oft starke Empfindlichkeiten auf beiden Seiten. Ein Sohn war in der Beratung bei uns und sagte, er werde die Mutter unterbringen müssen, wenn die Intimpflege beginnt. Das macht er nicht! Und wir gehen das Problem dann mit ihm durch, fragen, ob es ihm hilft, wenn die Sozialstation mitpflegt. Also, die Leute fragen sich das oft gar nicht, was es an Erleichterungen geben könnte. Sie rutschen da einfach so rein und fühlen sich wie in der Falle, aus der es keinen Ausweg gibt.

Reinrutschen tun natürlich vorwiegend die Frauen – also 80 bis -90 % der Pflegenden sind ja Frauen –, es sind die pflegenden Ehefrauen, und es sind vor allem die Töchter und Schwiegertöchter, also Frauen im Durchschnitt so zwischen 40 und 70 Jahren. Und übrigens, da wir länger leben, sind wir Frauen es dann natürlich auch wieder, die die Gewalt empfangen, letztlich. Aber ich will’s mal so sagen, im häuslichen Bereich gibt es meist kein klares Opfer-Täter-Verhältnis, es schaukelt sich hoch an alten und neuen Konflikten, Verletzungen, Kränkungen und auch Missverständnissen – und es gibt natürlich auch die 85-Jährigen, die es schaffen, aus dem Bett heraus ihre pflegenden Töchter, Söhne, die ganze Familie zu terrorisieren, zu schikanieren. Eine sagte letztens: ‚Wenn ich mal eine halbe Stunde zu spät komme, dann macht sie ins Bett, um mich zu bestrafen.‘ Oder einer erzählt: ‚Seit fünf Jahren waren wir keinen einzigen Tag weg, nicht verreist und nichts, dann wollten wir endlich mal verreisen, die Unterbringung und alles war bestens geregelt, dann sind wir nach zwei Tagen wieder zurückgeflogen, weil die Meldung kam, sie ist erkrankt.‘ Das ist oft eine Spirale aus Schuldgefühlen und Erpressungen, und in diesem Klima, in dieser Atmosphäre, gedeihen eben alle Formen von Gewalt.

Und Gewalt ist ja nicht nur die ganz konkrete, auf den Körper ausgeübte, es ist auch die verbale, emotionale. Das geht von ganz versteckten, kleinen Andeutungen bis hin zur Entwürdigung und seelischen Grausamkeit. Für den häuslichen Bereich wäre das beispielsweise: einschüchtern, isolieren, beschimpfen, verspotten, mit Liebesentzug drohen, mit Heimeinweisung; und körperlich wird eben schon mal hart angefasst, aggressiv gewaschen, gekämmt, gefüttert, an den Ohren gezogen bis hin zum Schlagen. Bei der stationären Pflege im Heim sind die Formen der Gewalt meist vielfältiger, der Konflikt ist kein persönlicher, sondern er hat mit der personellen Unterversorgung usw. zu tun, da kommt es dann zu gängigen Maßnahmen wie: Kasernenhofton, unerwünschtes Duzen, Unterwerfung unter einen fürs Heim praktischen Essens- und Schlafenszeitrhythmus, zu fettes, zu abwechslungsarmes oder mangelhaftes Essen, mangelnde Schmerztherapie, zwangsweises Ruhigstellen durch Fixieren oder Medikamente, Flüssigkeitsmangel, Zwangswindelung, aber nur dreimal täglich Windelwechsel, lieblose, hastige Abfertigung, vergebliches Klingeln oder Entfernung der Klingel aus der Reichweite. Und auch hier kommt es schon mal zu Handgreiflichkeiten oder den noch schlimmeren Sachen, von denen man dann ab und zu mal in der Presse lesen kann. Das Heimgesetz hat zwar allerhand formuliert, um den Bewohner zu schützen, also das Zimmer hat er ja gemietet, hat einen Mietvertrag unterschrieben, das ist sein „Zuhause“ – auch im Zweibettzimmer –, das Personal muss klopfen usw. Aber die Realität sieht anders aus. Wie sagte ein Pfleger letzthin?: ‚Um 19 Uhr will ich hier keinen mehr auf dem Flur sehen!‘ Um 17 Uhr gibt es oft Abendbrot, und dann macht das Personal die Leute fertig zur Übergabe an den Nachtdienst. Aber können die nicht noch im Schlafanzug etwas über den Flur gehen oder im Tagesraum sitzen? Nein, es muss ruhig sein! Es muss schnell gehen, reibungslos. Dadurch entsteht auch Gewalt. Und das ist bereits schon Gewalt, wenn man, wie unlängst jemand erzählte, um 18 Uhr die Rollläden alle runterlässt im Sommer, damit den Leuten suggeriert wird, es ist dunkel, es ist Nacht, es ist Schlafenszeit. Oder wenn man den Leuten, die zur Toilette geführt werden möchten, sagt: ‚Wissen Sie was, machen Sie’s einfach wie die anderen auch, Sie haben eine Windel um, lassen Sie’s einfach laufen, den Rest erledigen wir.‘ Es gibt ganze Stationen, da sind alle gewindelt. Da kommt morgens eigens ein Lastwagen und holt das alles vom Vortag ab für die Müllverbrennung. Sie wollen einfach die Leute nicht dauernd zur Toilette führen. In guten Heimen, da kommen sie alle zwei Stunden mal vorbei und sagen: ‚So, Frau Müller, wollen wir mal?‘ Und so werden die Leute automatisch dran erinnert.

Denn man muss sich ja vergegenwärtigen, zwei Drittel der Bewohner sind dement, die können sich nicht wehren, die können sich nicht richtig artikulieren, denen hört keiner zu, die sind dem hilflos ausgeliefert. Das Pflegeheim, das ist das Ende, die Finalpflege. Die durchschnittliche Verweildauer in den Häusern ist, glaube ich, zweieinhalb Jahre. Mancher ist vielleicht auch sechs bis acht Jahre da. Aber es heißt zu Recht, man geht ins Heim und kommt da nie mehr raus, man geht hin zum Sterben. Und das ist für das Personal natürlich alles auch sehr belastend. Dazu kommt, der Beruf ist schlecht bezahlt und in der Öffentlichkeit schlecht bewertet. Wenn eine sagt, sie ist Altenpflegerin, dann hört sie gleich: ach, du Arme! Und bei der andauernden Personalknappheit, die in den Häusern herrscht, wird allzu oft auch noch die ganze Last und Verantwortung den wenigen Kräften zugeschoben. Das zermürbt natürlich. Und es gibt eben auch ungeeignete, unempfindliche Kräfte, die gewohnheitsmäßig grob und unfreundlich sind. Das alles verschärft die Lage der Alten und erhöht ihr Risiko, Opfer von Gewalt zu werden. Es existieren aber, das muss man sagen, auch sehr gute Häuser mit Stationen nur für Demente, die bilden kleine Bezugsgruppen mit kleinen Teams von Pflegekräften, die für wenige Patienten nur zuständig sind. Da werden neue Konzepte entwickelt, und man versucht frischen Wind reinzukriegen. Und seit einer Weile gibt es ja auch richtig gehende Demenz-Wohngemeinschaften. Die ersten Gründungen waren ja ganz klar auch eine Antwort auf die großen Einrichtungen und ihre völlige Überforderung. Ein Demenzkranker braucht eine sehr anspruchsvolle Pflege und Betreuung, die machen ja wilde, abstruse Sachen, reißen aus, gehen halb nackt durch die Gärten, rauchen und stecken die Zigaretten zwischen die Polster ins Sofa, randalieren oder lassen das Gas brennen uws. Da muss man immer wachsam sein, und oft sind sie auch depressiv, brauchen Aufmunterung, Motivationstraining, Unterhaltung. Deshalb sind ja heute auch die Heime so voll mit Dementen, weil der mobile Pflegedienst der Sozialstationen, der kann natürlich nur zeitweise betreuen, der kann das einfach nicht leisten.

Und bei uns hier laufen dann eben die Meldungen der Missstände ein. Ein Beispiel will ich Ihnen erzählen: Angehörige haben uns berichtet, dass es in dem betreffenden Heim keine Zwischenmahlzeiten gab, also nur drei Mahlzeiten am Tag wurden ausgeteilt. Es ist aber für alte Leute, die nicht viel essen auf einen Schlag und vielleicht noch Diabetiker sind, ganz wichtig, dass man ihnen Zwischenmahlzeiten anbietet. Da gab’s dann auch Berichte, dass die Besucher im Haus oft richtig angebettelt wurden um Essen von den Heimbewohnern. Die Pflegerinnen haben teilweise den Menschen einfach Essen und Trinken hingestellt und nach einer Stunde wieder abgeholt, obwohl vielleicht gar nichts angerührt war, weil der Kranke, aus seiner Demenz heraus, gar nicht verstanden hat, dass er das Essen selber nehmen kann. Es kam auch vor, dass Selterflaschen tagelang voll dastanden, ungeöffnet, ohne dass getrunken wurde daraus. Und das Personal hatte immer die Legitimation, dass eine frische, volle Flasche dasteht. Also, in diesem Fall war es so, dass die Angehörigen auch selber gehandelt haben und bereits eine Anzeige gemacht hatten. Ich war dann dort und habe dem Heim erklärt, wir sind ‚Pflege in Not‘, wir vermitteln neutral bei solchen Konflikten – es ist so, dass die Häuser uns ja nicht reinlassen müssen –, ich habe also meine Vermittlung angeboten, aber das war ein vollkommen eisiges Gespräch. Die Parteien waren derart aufgeladen, da ging nichts mehr. Die Angehörigen haben ihre Mutter dann auch da rausgenommen. Wir sind aber drangeblieben, denn den anderen Heimbewohnern musste ja auch geholfen werden. Da wurde dann auch die Pflegekasse eingeschaltet.

Also für die Anrufer, die sich hier an uns wenden, da ist es wichtig, dass die wissen, wir hören ihnen zu, wir nehmen uns Zeit, wir gehen auf die Probleme ein – und was ganz besonders wichtig ist, wir halten sie nicht für Monster, auch dann nicht, wenn sie uns drastische Dinge erzählen. Und was auch manchmal vorkommt, ist, dass die Anrufer sagen, wir möchten sehr gerne, dass sich was ändert, aber bitte, bitte, bringen Sie nicht meine Person ins Spiel. Also, wir reagieren auch auf anonyme Anrufe, allerdings muss man dann im Gespräch genau abklären, dass die Dinge hieb- und stichfest sind. Aber ich muss sagen, die meisten Anrufer nennen sofort ihren Namen. Meine Kollegin, die Psychologin Dorothee Unger, und ich, wir wechseln uns ab. Momentan ist es so, dass sie sehr viele der Telefongespräche führt, während ich als Mediatorin im Moment auch in die Einrichtungen gehe und da Beratungsgespräche mache, wenn Leute einfach in einer schwierigen Pflegephase solche Gespräche brauchen. Am Anfang dachten wir ja, dass die Leute anrufen und sagen: Hilfe, was soll ich nur machen, gleich tu ich meiner Muter was an?! Aber das passiert gar nicht, sie sagen eher, dass sie schon ’ne ganze Weile die Nummer haben und ob sie nicht mal kommen können zu einem Gespräch. Manche Gespräche dauern ein halbes Jahr.

Wie viele nicht anrufen, das wissen wir natürlich nicht. Weil wir keine Mittel haben, können wir natürlich auch nicht für uns werben in der Öffentlichkeit. Und wirklich ganz tragisch ist, dass es in den neuen Bundesländern überhaupt kein Krisentelefon dieser Art gibt, keiner will es finanzieren, Mecklenburg-Vorpommern war sogar so vermessen zu behaupten, dass sie keine Gewalt in der Pflege haben, was ein Schwachsinn ist! Das sehen wir ja hier in Berlin, wo wir Anrufe aus Ost- und Westberlin gleichermaßen haben. Und es ist gerade auch auf dem Land, in den neuen Bundesländern besonders, ja ganz schlimm mit der Arbeitslosigkeit. Da wird die Aufnahme der gebrechlichen Eltern natürlich zu einem unverzichtbaren Einkommen. Es lebt dann die ganze Familie mit von der Rente und vom Pflegegeld. Dabei möchte die Mutter aber vielleicht lieber ins Heim, als in irgendeinem Hinterzimmer auf den Tod zu warten. Die Kinder sind aber strikt dagegen, der Sohn befürchtet, er muss dann das Haus verkaufen, um für die Heimkosten mit aufzukommen – was unrichtig ist – oder wenn sie ins Haus der Mutter gezogen sind, dann wird die Sache schon schwieriger. Jedenfalls ist die gegenseitige Abhängigkeit in der Pflegesituation oft noch mal durch den materiellen Faktor verschärft, und da entstehen mit Sicherheit Probleme, für die es nirgendwo Rat und Hilfe gibt.

Seit 1995 besteht ja die Pflegeversicherung, es gibt verschiedene Pflegestufen, in die der Pflegebedürftige eingeordnet wird, und da bekommt er bei Stufe I 205 Euro, bei Stufe II 410 Euro und bei Stufe III 665 Euro. So, und nun kann der Pflegebedürftige selbst bestimmen, wer ihn pflegt. Er kann seinen Partner einsetzen, seine Kinder, aber auch Freunde, Nachbarn, wenn er will. Also, es könnte im Prinzip jeder pflegen. In diesen Fällen gibt’s dann einmal im halben Jahr eine Art Kontrolle, es kommt jemand von der Kasse vorbei zu einem Beratungsgespräch, da wird dann gefragt, ob alles zufrieden stellend ist usw., denn die Kasse will ja, dass das Pflegegeld dem Gepflegten zugute kommt. Oder aber der Pflegebedürftige entscheidet sich für professionelle Hilfe, nimmt einen Pflegedienst. Die bekommen so etwa 18 Euro mehr von der Kasse, es werden die Pflegestufen ja berechnet nach Pflegeminuten, die da über den Tag verteilt anfallen, und das soll an sich ganz genau ausgeführt werden, was da an Leistungen anfällt, und wird auch vom Pflegebedürftigen – oder vom Kunden, wie es ja heute heißt – gegengezeichnet. Übrigens kommen bei uns relativ wenig Beschwerden über die Sozialstationen an, was öfter mal moniert wird, ist, dass sie nicht korrekt abrechnen, dass sie von den Alten da ihr Kürzel auf dem Blatt haben wollen für Dinge, die teilweise gar nicht erbracht worden sind. Wichtig ist aber, dass durch die Arbeit der Sozialdienste heute viele Menschen zu Hause in ihrer eigenen Wohnung bleiben können, bis zuletzt, oft bis zum Tod.

Aber das ist eben nur ein kleiner Teil, die überwiegende Mehrheit wird zu Hause von den Angehörigen oder im Heim gepflegt, und von dort erreichen uns auch die meisten Anrufe von verzweifelten, überforderten Frauen. Und da sagt dann eben eine Tochter: ‚Ich habe solche Aggressionen gegen meine Mutter. Ich gehe immer ins Badezimmer, reiße die Frotteetüchter aus dem Schrank und schlage sie so lange auf den Badewannenrand, bis sich der Stau etwas gelöst hat.‘ Eine andere Tochter hat die Mutter mit der Bürste geschlagen und weiß nicht weiter. Und da sagen wir, wollen Sie denn nicht mal einfach vorbeikommen, da können wir in Ruhe gucken, was gibt’s genau für Probleme, was gibt’s für Möglichkeiten der Lösung in Ihrem Fall. Das ist oft eine solche Erleichterung und Befreiung für die Leute, es ist unglaublich. Bei den Heimen ist es schon schwieriger. Manche Heime sind einfach beratungsresistent. Nach einer Beschwerde, bei bevorstehender Prüfung, stellen sie dann vorübergehend mehr Leute ein, wie oft haben wir das gehört – die Prüfungen sind ja angemeldet –, Wochen später sind alle wieder weg. Jetzt muss ich leider mal was Negatives sagen über die so genannte Heimaufsicht, die von ihrer Aufgabe vollkommen überfordert ist. Man kann nicht mit zwölf Personen über 500 Heime beaufsichtigen in dieser Stadt, also da sind auch Behinderte und Psychiatrie mit dabei, Altenheime sind es etwa 300. Sie schaffen es höchstens jedes Haus einmal in zwei Jahren zu sehen, und da zeigt man ihnen natürlich nichts! Die Einzigen, die für uns momentan wirklich eine große Hilfe sind, das ist der MDK, der Medizinische Dienst der Krankenkassen. Die gehen wirklich, wenn es sein muss, auch nachts und unangemeldet in die Häuser, auch aufgrund von Beschwerden, die wir hatten. Die sammeln die Beschwerden eine Weile, und dann gehn sie los, und die müssen eben auch eingelassen werden. Das finde ich Klasse!

So, jetzt hol ich einfach mal unser Buch, jeder eingehende Anruf wird da aufgeschrieben, also so die wichtigsten Fakten usw. – und dann haben wir noch einen speziellen Auswertungsbogen, da ‚stricheln‘ wir nur, damit wir vielleicht mal was Statistisches vorlegen können. Von diesen Bögen haben wir ganze Ordner voll, über 6.000 sind es, aber das ist ein Schatz, den wir gar nicht heben können, dazu fehlt einfach das Geld. Neulich haben wir mal ganze Abende gesessen und drei Monate nur ausgewertet … Ich würde gerne mal eine richtige Untersuchung über Berlin machen, über bestimmte Auffälligkeiten, über bestimmte Heime, aber es geht nicht! Dass wir hier überhaupt so komfortabel in diesen schönen Räumen arbeiten können, das verdanken wir der Kirchengemeinde Heilig Kreuz/Passion, das ist eine ganz lebhafte, auch politisch rührige Kreuzberger Institution, die bezahlt uns hier die Miete. So, jetzt habe ich unser Buch … mal sehn … ja, also eine Tochter ruft an, die Mutter ist im Heim und hat Angst vor dem Pfleger. Die Mutter ist als junge Frau vergewaltigt worden und möchte keine Intimpflege haben durch männliches Personal. Das wurde ihr beim Einzug zugesichert, man hat das aber irgendwie für Prüderie gehalten, jedenfalls haben nun dauernd zwei Pfleger allein auf dieser Station Spätdienst. Und ein anderer Fall, der sehr typisch ist, eine Tochter hat gegen das Heim, in dem die Mutter war, Anzeige erstattet wegen schwerer Körperverletzung. Sie hatte bereits drei Heime verklagt, in denen die Mutter im Laufe der Zeit lag, denn es hat sich bei der Mutter ein schweres Dekubitusgeschwür entwickelt, das gar nicht oder nicht gut versorgt wurde und zuletzt sogar chirurgisch behandelt werden musste. Wobei ich sagen muss, die Tochter ist sehr schwierig – aber was zählt, ist die Sache mit dem Dekubitus, und der ist nicht durchs Schwierigsein der Tochter entstanden!

Zum Thema Dekubitus, was ein ganz wichtiges Thema ist, denn auch alle Formen der Verwahrlosung und Unterlassung sind Formen von Gewalt, und da gibt es das Kuratorium für deutsche Altershilfe, die haben einen Standard entwickelt und sind sehr bemüht darum, dass alle Pflegeheime nach diesem Standard Dekubitusbehandlung machen. Und … Moment, ich schau mal nach … es gibt auch eine sehr interessante, Städte vergleichende Sache, bei der Berlin am allerschlechtesten abschneidet … So, also 1999 hat ein Hamburger Gerichtsmediziner, Prof. Püschel, die Öffentlichkeit auf einen verborgenen Skandal aufmerksam gemacht. Zu den Aufgaben der Gerichtsmedizin gehört ja auch, die Leichen in den Krematorien vor der Verbrennung noch einmal zu begutachten, weil ja sonst eventuelle Spuren eines eventuellen Verbrechens endgültig zerstört wären. Bei den Untersuchungen von 10.000 Verstorbenen aus der Hansestadt hat er in zirka 11 % der Fälle Druckgeschwüre durch Wundliegen festgestellt, 2 % davon waren schwere, großflächige Geschwüre. Mehr als die Hälfte der Verstorbenen mit schweren Dekubiti hatten zuletzt in Pflegeheimen gelebt. Damals ging ein Sturm der Entrüstung durch die Medien, ‚Exitus durch Vernachlässigung‘ titelte der Spiegel usw. Einige Zeit später machte der Gerichtsmediziner Dr. Eidam aus Hannover seine Untersuchungsergebnisse bekannt: Von 12.218 untersuchten Leichen wiesen 14,4 % Druckgeschwüre auf! Und dieser Gerichtsmediziner sagte, ich lese mal vor: ‚Von den Dekubitalgeschwüren, die ich im Krematorium sehe, sind einige behandelt worden. Bei vielen fällt jedoch die Haut in schwarz-grauen Fetzen ab. Da ist nichts unternommen worden, denn sonst hätten keine zum Teil pizzatellergroßen Zonen entstehen können, in denen man in der Mitte durch alle Gewebeschichten bis in den Knochen sehen kann.‘ Und eine in der Öffentlichkeit ziemlich unbekannt gebliebene Untersuchung aus Berlin aus dem Jahr 2000, veröffentlicht in der Zeitschrift der Berliner Ärztekammer, kommt zu einem noch erschreckenderen Ergebnis: Da kam man bei den untersuchten Leichen in dieser Stadt auf eine Dekubitusrate von 16,2 %. Und das ist natürlich katastrophal und zeigt, dass sehr viel mehr und sehr viel genauer hingeschaut werden muss bei denen, die sich nicht mehr selbst entrüsten können. Wie wichtig es ist, dass die Angehörigen eine Anlaufstelle haben wie unsere, denn Beschwerden beim Pflegepersonal und bei der Heimleitung sind ja meist unergiebig, denen sind ja die Dekubitusfälle auf ihren Stationen bekannt.

Deshalb muss man eben schon frühzeitig eingreifen. Einen schweren Fall hatten wir, da hat sich über längere Zeit eine Pflegekraft, eine Nachtwache, sehr beschwert, weil sie beim Nachtdienst permanent unterbesetzt waren, und das bei schwer pflegebedürftigen Bewohnern. Es war nicht möglich, die Leute gegen das Wundliegen alle zwei Stunden zu drehen, weil keiner da war. Da gab’s dann auf unsere Initiative hin eine nächtliche Begehung durch den Medizinischen Dienst, und danach sind Tränen geflossen im Heim – und Stellen eingerichtet! Aber so erfolgreich sind wir nicht jedes Mal. Im Grunde müsste man das alles anders organisieren: mit Kindern, Nachbarn, mit Freunden, sodass es für alle einfacher und angenehmer ist.