PETER UNFRIED über CHARTS
: Das kann doch alles nicht wahr sein

Kalifornisches Tagebuch (1): Mit „I hate Bush“-Menschen in der Premiere von Michael Moores „Fahrenheit 9/11“

Santa Cruz, California. Es war 11 Uhr früh, und vor dem Del Mar-Kino auf der Pacific Avenue hatte sich am vergangenen Freitag eine Menschenmenge versammelt. Ah: Fahrenheit 9/11 lief an. Michael Moores neue Dokumentar-Abrechnung mit dem amtierenden US-Präsidenten George W. Bush. Im Santa Cruz Sentinel stand, dass die Kinobesitzer 2.000 Karten verkauft hatten. Im voraus. So viele wie nie, hieß es. Na ja: Santa Cruz ist eine so genannte Collegetown. Das heißt: Die Existenz einer Universität hat Einfluss auf entscheidende Qualitätsfragen eines menschlichen Lebensumfeldes. Solche Städtchen gelten häufig als „liberal“. Zur Erklärung: Liberal bedeutet in den USA links. Was aber in den USA als links gilt, wäre in Deutschland bestenfalls liberal. Letztlich fühlt sich Santa Cruz ein bisschen an wie Tübingen. Mit einem entscheidenden Unterschied: Es liegt am Meer – und nicht neben Reutlingen.

Ich war noch nie vormittags in einem Film. Es wurde das intensivste Kinoerlebnis seit langem. Nicht nur, weil man durch die Rock-’n’-Roll-Reaktionen des „I hate Bush“-Shirts tragenden Publikums eine Ahnung bekommt, wie tief Amerika gespalten ist.

Was den Film betrifft, so bekommt der Bush-Gegner das, was er erwarten darf: die in Florida gestohlene Präsidentschaftswahl 2000, die Bush-Bin-Laden-Familienbande, die Geschäftsinteressen der Bushs sowie jene von Vizepräsident Dick Cheney, der neue Markt, der sich für die der Bush-Administration angeschlossenen Unternehmen durch den Irakkrieg auftut. Man weiß, worauf Moore hinaus will. Man analysiert während des Zusehens, dass Moore mal wieder mit Emotionen arbeitet. Man versteht die Absicht in der Auswahl und Anordnung der Bilder. Die unterlegte Musik. Oh ja, der Journalist und Moralist Moore hat sich seine eigene Wahrheit zusammenrecherchiert. Genau wie Bush, CNN, al-Dschasira, Tacitus, Mommsen und die taz. Aber darüber hinaus hat er auch Protagonisten, die ihre eigenen Wahrheiten erzählen, vor allem eine Frau, an der offenbar alles echt ist. Es ist eine Patriotin, die eines Tages bitter weint, weil sie das Falsche getan und geglaubt hat. Es ist der Tag, an dem sie ihren Soldatensohn tot aus dem Irak zurückgeschickt bekommt. Samt letztem Monatslohn. Abzüglich der fünf Tage, an denen er – da tot – nicht mehr gearbeitet hat. Es liegt zum einen an dieser blöden Frau, dass mich Fahrenheit 9/11 stärker mitgenommen hat als „Schindlers Liste“. Letztlich ist es aber auch so, dass die Abrechnung mit dem dummen George W. wunderbare Lacher abwirft, aber keinen comic relief verschafft. Man sitzt da und denkt das, was man sich als aufgeklärter, distanzierter Pragmatiker niemals erlauben wollte. Man denkt naiv: Das kann doch alles nicht wahr sein. Es ist aber nicht die Dummheit Bushs, die einen fassungslos und wütend macht. Es ist die eigene Dummheit. Das kann kein schlechter Film sein.

Ich mache es jetzt mal so, wie man es Moore vorwirft, nenne meine These und konfrontiere Sie danach mit einigen assoziativ hintereinander geschnittenen Sequenzen. Also, die These ist: Die Bush-Gang ist trotz allem nicht allein der Grund für den Zustand Amerikas, sondern auch die Folge davon. Und nun meine persönlichen Bilder dazu: Omnipräsente Polizisten, die einen wegen jedem Dreck verfolgen und abmahnen. Die totale Kontrolle der Freiheit. Das gigantische Star-Spangled-Banner im Nachbarsgarten. Die wahnsinnigen Autos. Der Rock ’n’ Roller, der während des Konzertes zusammenhanglos schwärmt, „in was für einer großen Nation wir leben“. Das alles sind selbstverständlich keine Beweise dafür, dass Amerika nicht nur groß ist, sondern auch gestört.

Aber wie ist es damit? Die Besessenheit mit der Bill Clintons Arbeit in diesem Tagen, da er mit seiner Autobiografie durch das Land tourt, immer noch auf eine Nebensächlichkeit reduziert wird. Der amtierende Präsident Nr. 43 hat ja bloß u. a. Afghanistan, Irak, Umwelt und Bildung den Krieg erklärt. Nr. 42 aber hat sich von einer Praktikantin einen blasen lassen. Letzteres scheint noch immer deutlich mehr Leute kritisch zu beschäftigen.

Fotohinweis: PETER UNFRIED CHARTS Fragen zur Dummheit? kolumne@taz.de Mittwoch: Jenni Zylka PEST & CHOLERA