Matthias aus Anatolien

Fruchtbare Provokation: Seit einer Wochen hängen in Berlins muslimisch geprägten Vierteln Plakate, die Homosexualität bei türkischstämmigen Jungs und Männern zum (Integrations-)Thema machen

VON JAN FEDDERSEN

Eine erste Bilanz seitens des Lesben- und Schwulenverbands Deutschland (LSVD) fällt höchst positiv aus: Nur 5 von 46 großflächigen Plakaten sind im Laufe einer Woche beschädigt worden, eines, mitten im türkisch-arabischen Quartier von Neukölln, war mit den Worten „Die Lesben und die Schwulen sind krank. Wir müssen sie heilen“ per Farbsprayflasche grell kommentiert worden.

Kurzum: Die Diskussion ist jetzt aus den Vereinsetagen in die Öffentlichkeit getragen worden. Vor vier Monaten verabredeten LSVD und der Türkische Bund Berlin Brandenburg (TBB), ein Tabu anzukratzen – mithilfe einer gemeinsamen Plakataktion: dass Homosexuelle türkischer (und überhaupt muslimischer Prägung) nicht nur dem Rassismus durch die Mehrheitsgesellschaft, sondern auch, als Schwule, häufig (auch handfester) der Gewalt durch Mitglieder der eigenen Community ausgesetzt sind. Berlins Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner gab gern ihren Segen dazu: „Ich freue mich über diese Initiative.“

Vor gut einer Woche wurden die Plakate aufgehängt, auf denen zu lesen stand: „Kai ist schwul. Murat auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“ Die Botschaften waren vielfältig geknüpft – und zugleich sonnenklar: Kai und Murat bilden keine Gegensätze, sondern sind in ihrer Nonheterosexualität erwünscht und gleichberechtigt. Und: Nicht allein die Bürgerrechtsbewegung von Schwulen und Lesben allein mokiert sich über die Schwierigkeiten muslimisch geprägter Jungs, überhaupt zu einer eigenen sexuellen Identität zu finden, sondern auch der TBB. Die einflussreichste Interessengruppe türkischstämmiger Einwanderer in Deutschland gelobte gar, in ihren Vereinen das Thema zu streuen – bis hinein in die Fußballvereine ihrer Community.

Tatsächlich scheint die Debatte begonnen zu haben. Zwar hat der TBB eigenem Bekunden zufolge noch nicht all seine Mitglieder erreichen können, aber man kümmere sich weiter – ungemütliche Themen plenar zu erörtern brauche eben länger. Der LSVD andererseits freut sich über ein gehöriges Maß an Irritation durch die Plakate. Am U-Bahnhof Hermannstraße beispielsweise, der Zielgruppentreffpunkt schlechthin in Berlin, war häufiger zu sehen, wie Frauen das Bild samt Text zur Kenntnis nahmen – Männer aber um es herum einen weiten Bogen machten: wie von Fantasien bemächtigt, dass schon ein Blick und eine nähere Präsenz beim Plakat infektiös wirken könnte.

Einsehbar lebendiger wurde im Internet diskutiert. Unter www.muslimmarkt.de hieß es: „Die Methoden, mit denen versucht wird, Muslime in diesem Land unter allen Umständen zu provozieren, zu schockieren und zu beleidigen, kennen kaum noch Grenzen!“ Als ob es nur einen Islam geben – und dieser nur homophob gelesen werden könne. Schön auch die Debatte unter www.hoppaa.com, einem Onlineforum aus Pforzheim, bei der neben angstfantasierten Unflätigkeiten („Mein Willi soll sauber bleiben“ oder „Eines Tages werden sie enden wie die Einwohner von Sodom und Gomorrha“) von der Art, wie sie ebenso gern in christlichen Milieus geäußert werden, auch ein Statement eines Cueneyt zu finden war, das eine libertäre Sicht einzunehmen versucht: „Ich mag Schwule und Lesben nicht. Aber ich toleriere sie, schließlich sind das auch Menschen. Die sollen aber ihre türkischen Namen abgeben, wenn sie schwul oder lesbisch sein wollen. Den Namen des Propheten wie Mustafa oder Ahmet tragen und dann sich in den Arsch ficken lassen?“

Nein, das findet Cueneyt völlig indiskutabel, findet aber elegant einen Weg aus der selbst gebauten Argumentationsfalle, denn Schwule und Lesben, das weiß auch er, sind ja nicht umzupolen: „Das Motto sollte lauten: Kai ist schwul und Matthias aus Anatolien auch.“

Bali Saygili vom Berliner LSVD findet, dass der Aufwand sich gelohnt hat: „Ich habe von vielen Familien gehört, wo man darüber gesprochen hat. Schwule Türken wissen jetzt, dass sie nicht allein sind. Das stärkt sie über jeden CSD hinaus.“ Und Lesben türkischer Herkunft? Man habe zunächst ein Plakat mit Schwulen entworfen, weil die muslimisch grundierte Homophobie in erster Linie von patriarchalen Ängsten getrieben werde.

Dennoch misslich, sträflich und wahr ist: LSVD und TBB fanden angeblich kein Geld, um die Plakataktion gendermäßig zu doppeln – mit einem lesbischen Motiv: Im Herbst sollen die Mittel gesammelt worden sein, auf dass es von Neuköllner und Kreuzberger Wänden leuchtet: „Yvonne ist lesbisch. Betül auch! Sie gehören zu uns. Jederzeit!“