bernd müllender über Plagen
: Mal eben zwischendurch, nur fünf Minuten

Immer mehr Freizeitgestaltungsvorgesetzte regen uns zum pausenlosen „Üben, üben, üben!“ an. Und damit leicht auf

Viele Dinge tun wir jeden Tag, ohne groß darüber nachzudenken. Zähneputzen zum Beispiel, morgens und abends, und – ja, ja Herr Dr. med. dent. – natürlich am besten auch nach jeder Mahlzeit. Dazu andere Körperpflegeroutinen wie: Hände waschen, duschen, in der Nase bohren, Haare bändigen (oder Glatze streicheln), dabei in den Spiegel gucken und sich chic oder doof finden. Und natürlich schlafen.

Allein das Schlafen kostet, rechnen Schlaumeier, fast ein Drittel unseres Lebens. Dass wir allerdings überhaupt nur dank der Schlafenszeit die anderen zwei Drittel erleben können, ist eine Frage von Aufwand und Ertrag. Also very old economy.

Uns interessiert die New Economy des Körperlich-Seelischen: Eine wachsende Zahl Zeitgenossen raubt uns unser Restleben – einzeln tun sie es minutenweise, gemeinsam stundenweise. Täglich! Es sind Kursleiter und Freizeitgestaltungsvorgesetzte, Ärzte und andere Gesundheits-Saddams, sogar Freunde und sonstwie vermeintlich Gutmeinende. Sie sagen: Um glücklich, fit oder lebensbewusster zu sein, musst du dieses oder jenes nur einmal am Tag machen oder üben, „irgendwann mal eben zwischendurch“, egal ob zu Hause/im Büro/im Auto/im Bett, „nur ein paar Minuten“, ganz kurz, „aber regelmäßig“, nur so zwischen „Tagesschau“ und „Wetterkarte“.

Nur so. Mal eben. Befolgt man alles, bleibt von den zwei schlaflosen Dritteln des Lebens wenig bis nichts.

Früher waren es die Plagegeister von Lehrern mit ihren Hausaufgaben. Heute sind es Leute wie der Orthopäde, der durch seine randlose Brille sagt: „Nur ein paar Minuten pro Tag“ die Übungen für den Rücken. Der Krankengymnast propagiert dazu den gesunden Gang, „immer mal wieder zwischendurch bewusst machen: Schultern zurück, das stolze Brustbein aufrichten“. Die sekundierende Fitnesstrainerin preist Stretching des Morgens und des Abends sowie vor und nach jedem sportiven Tun, also sehr oft. Ach, und das richtige Sitzen trainieren. Jederzeit! Die kleine Beckenbodenmuskulatur muss frisch entdeckt sein, denn da wollen alle mobilisieren: „Die ist auch gut fürs Gebären“, sagt eine Freundin ernsthaft lächelnd.

Da ist der Schuhverkäufer, der einem diese Fußsohlen-Massage-Igel („Die tun so gut“) aufgeschwätzt hat: „Nur einmal am Tag.“ Was den Heilpraktiker zu Ergänzungsideen anstachelt: „Fußreflexzonen … mal hier mal da … aber regelmäßig.“ Und der die Handgelenke rufen lässt: Warum nutzt du nicht mal wieder die schönen Gelenkstärkungsquetschgeräte?

Gehst du zum Seelendoktor, wird dir dieser Gedanken an die Kindheit anempfehlen, ersatzweise die späte Auseinandersetzung mit der Frau Mama. Gelassenheitsübungen, Entspannung, Meditation. Aber nicht nur mal so gelegentlich! Regelmäßig, klaro. Absolvierst du einen Kurs in autogenem Training, ist Pustekuchen mit Autonomie: Nachüben, weiter trainieren, heißt es freundlich. Lieblingssatz aller postmodernen Hausaufgabenaufgeber: „Das kann man auch sehr gut zu Hause machen.“

Der Leiter unserer vielstimmigen chorischen Grölgruppe möchte das neue Sangesstück „bis zum nächsten Mal“ nur „zwei-, dreimal kurz“ geprobt hören: „Und macht doch immer mal die Atemübungen zwischendurch. Das tut gut.“ Bauchatmen üben, Flankenatmen üben, Steißbeinatmen üben. Schnellatmer haben Freunde im appellativen Repertoire: Frühjoggen, nur zehn Minuten, aber vor dem Frühstück. „Du, das kostet doch keine Zeit oder Mühe! Und macht so powervoll.“ Vor dem Schlafengehen, sagt der Nächste, immer unbedingt ein Gedicht lesen – und das Leben bekomme sofort eine andere Nuance. Da baumle sich die Seele, die zu wenig Beachtete, garantiert ins schiere Glück. Oder mach Yoga, sagt jemand. Oder noch besser, hier: die Entspannungskassette nach Jacobsen. Ganze 20 Minuten. „Einmal am Tag reicht.“

Sinne schärfen, Gemüt balsamieren, des Körpers Verfall bremsen. Bewusstsein stärken. Alles für sich lobens- und lernenswert. Aber alles zusammen kapazitätenübersteigend. Die Häppchen geraten zur Mastkur, aus dem Stakkato der Kleinigkeiten wird eine Zeitspanne zwischen „Wetterkarte“ und „Tagesthemen“. Ahnt eigentlich ein kluger Ratgeber, dass das kein Mensch schafft?

Wahrscheinlich haben nur diejenigen Gesundheits- und Freizeitaktivitäten Zukunft, die alle Ergänzungsüben per se ausschließen. Bis dahin will das Üben geübt sein. Zeitsparende Komprimierung hilft nur bedingt: Gedichtlesen beim Rückenstretching mit beiläufiger Fußmassage. Beim meditativen Joggen stolzbrüstig die kleinen Beckenbodenmuskeln groß atmen. Tonleitern nur mit geradem Rücken besteigen. Zähneputzen und Gelenkstärkertraining gleichzeitig mit Handwechsel. Und dabei schweigend das Dasein besingen.

Früher haben wir die Hausaufgaben schnell auf’m Klo abgeschrieben. Heute bleibt das Gefühl von Getriebensein. Oft gewinnt die Faulheit. Oder man verschlampt es. Da empfiehlt wer ein ganz tolles Gedächtnistrainingsbuch – „für die, die ihre täglichen Übungen vergessen“ wäre die perfekte Werbeidee. Nur wenige Einheiten am Tag reichen, steht da geschrieben. Nicht dass dieser kleine Scherz Realität wird: „Wie hieß noch mal dieser Alzheimer mit Vornamen?“ – „Keine Ahnung.“ – „Siehste: So fängt’s an.“

Antworten zu Üben, üben: kolumne@taz.de