Wir standen an Groschengräbern

Im Morgengrauen bei Aldi: Wenn der Ku-Klux-Klan Computer beim Discounter kauft

Für einen Moment ist es ganz still. Nur ein Asthmatiker saugt rasselnd Luft ein

Was man selbst nie machen würde – wenn ein Verwandter nachfragt, tut man’s, ohne mit dem Adamsapfel zu zucken. Zum Beispiel sich mittwochs eine halbe Stunde vor Ladenöffnung, also mitten in der Nacht, um halb neun, in die schon fünfzehn Mann starke Schlange vor dem Aldi-Markt einzureihen, um noch einen dieser neuen spottbilligen PCs mit CD-Brenner, DVD-Rom, 80-Gigabyte-Festplatte, einem Arbeitsspeicher from here to eternity, Servolenkung, Seitenairbag und wunderschönen Ledersitzen aus den gewaltigen Eutern südafrikanischer Wasserbüffel zu ergattern.

Nein, freiwillig würde man das nicht tun, aber dann ruft der Bruder an, womöglich noch der einzige: „Sag mal, alter Junge, ich bin doch für eine Woche auf Verschickung, könntest du da nicht an meiner statt …?“ Meinetwegen.

„Guten Morgen!“ Jedes neue Schlangenende wird freundlich begrüßt, also auch ich. Es ist recht kühl, obwohl die rötliche Sonne bereits über die Dächer blinzelt. Noch stehen wir im Schatten, und der zu leicht bekleidete Taxifahrer vor mir hat die Hände in der Jeansjacke, zieht fröstelnd den Kopf ein, wippt dann ein paar Mal schnell mit den Schultern. Jetzt will er vorgelassen werden. „Ich stehe hier nur schon mal, weil ich gleich eine Fahrt habe. Ich will ja gar keinen Computer“, heuchelt der Hund, „brauche nur ein paar Kleinigkeiten.“ Wir sehen ihn uns an, manchem steht die Mischung aus Ekel und Überdruss in dem noch nicht ganz wachen Knautschgesicht. Glücklicherweise werden hier keine starken Stricke feilgeboten – „Ku-Klux- Klan-proved!“

„Ey, können die heute nich’ mal fünf Minuten eher aufmachen? Nee, da müssen die bis zur letzten Sekunde …“ Wieder der Taxifahrer. „Das dürfen die gar nicht“, sagt ein fast weißhaariger Brillenträger in Strickjacke und hebt weltläufig den Zeigefinger, „da ist die Gewerkschaft vor!“

„Aaah, hör doch auf, das-ist-doch-hier-ist-doch-das“, er tippt sich an seine vor Ärger schon ganz rote Stirn. „Gewerkschaft – du glaubt ja wohl nicht im Ernst, dass die bei Aldi inner Gewerkschaft sind. Liest du gerne Märchenbücher, oder was?“

Generöse drei Minuten vor der Zeit lassen die Weißkittel uns ein. Wir stürzen wie die Kanalratten zum Mittelgang, aber da sind nur die Bildschirme. „Andere Seite“, ruft einer und rennt schon weiter, wir hinterher, aber auch hier nur Bildschirme, Bildschirme, Bildschirme. Was soll das?

„Wenn Sie die Computer suchen“, sagt nun eine wuschelköpfige, freundlich lächelnde Dame in Weiß, und man merkt dieser kleinen Halunkin im Krankenschwesterornat durchaus an, dass sich das frühe Aufstehen für sie heute gelohnt zu haben scheint, „die gibt es nur an der Kasse.“

„Wenn Sie die Computer suchen …“, einer macht die Einzelhandelskauffrau nach, „nein, ich will ’n Pfund Butter! Was frägt die so doof?“ Aber dann rennt er auch schon los, den anderen hinterher. Und ich ihm.

Zwei Kassen werden geöffnet und die Waren direkt aus dem Lager aufs Laufband gestellt. „Auch einen?“, fragt die Kassiererin jedes Mal. Ja, fürwahr, alle wollen einen!

„Auch einen?“ Die Kassiererin wartet die Antwortet schon gar nicht mehr ab, hat längt 1-1-9-9 in die Kasse getippt, nimmt die dicken, offensichtlich zu Hause vorgezählten Geldbündel, lässt sie behände durch ihre Finger gleiten und flüstert dazu kryptische Worte. Vielleicht betet sie ja gerade zum Goldenen Kalb, zum Geldgott – oder gleich zu Herrn Aldi. Dann ist die Reihe an mir.

„Auch einen?“ – „Sorry“, bricht es aus mir heraus, als ich ihr den Inhalt des Briefumschlags reiche, den mir mein Bruder dagelassen hat. Die Entschuldigung ist aber auch nötig, denn mein Bündel ist deutlich dicker als das der anderen. Es sind die sprichwörtlichen kleinen Scheine! Prompt verzählt sie sich, muss noch mal von vorn beginnen, was ein unverhohlenes Murren hinter meinem Rücken auslöst. Gott sei Dank werden hier keine starken Stricke feilgeboten.

Und dann ertönt eine glückliche Stimme aus dem Lager. „Soooo“, und der schon bekannte niedliche Wuschelkopf erscheint kurz in der Tür. „Das war’s, mehr haben wir heute nicht geliefert bekommen!“

Für einen Moment ist es ganz still. Nur ein Asthmatiker saugt rasselnd Luft ein, und es klingt ein bisschen so wie am offenen Grab, wenn sich zwei, drei Bröckchen frischen Mutterbodens lösen und auf den Sarg prasseln. Dann stöhnt die Menge auf, fast gleichzeitig, einer jault auch wie ein angefahrener Hund, die Stimmen bekommen etwas Zischendes, ein anderer sagt das böse Wort, das alle kennen und das ihnen ebenfalls auf der Zunge lag – aber dann hört man leichtes Gegnicker aus dem Lagerraum. Wieder erscheint die Frau mit dem Wuschelkopf in der Tür. „War nur ’n kleiner Scherz! Sind noch genug da …“ Aber es lacht keiner. Verdammt richtig so, dass hier keine starken Stricke feilgeboten werden.

FRANK SCHÄFER