Den Islam einbürgern

Kopftuchdebatte: Der Weg zur Integration zugewanderter Religionen führt nicht über die Tilgung kultureller Traditionen, sondern über die Erweiterung des kulturellen Spektrums

Es geht nicht nur um den Umgang mit dem Islam, es geht um das Selbstverständnisunserer Gesellschaft

Das Kopftuch ist ein Schleier. Wird er angehoben, gibt er den Blick auf die Be- und Empfindlichkeiten der deutschen Einwanderungsgesellschaft frei. Kein Stück Stoff dient so sehr als Projektionsfläche für Ängste, Befürchtungen und Wünsche.

Für viele Feministinnen – Einheimische wie Migrantinnen – ist das Kopftuch ein „Symbol der Separierung“. Bekennende Atheisten möchten nicht nur dieses religiöse Zeichen aus dem öffentlichen Raum verbannt sehen. Türkischstämmige Kemalisten ziehen Parallelen zu den politischen Konflikten im Herkunftsland, wo das Kopftuch für die Ablehnung des Laizismus steht. Mancher deutsche Christ schwankt zwischen der Konkurrenz mit einer anderen Religionsgemeinschaft, die auch hierzulande ihre Ansprüche formuliert, und der Solidarität unter Gläubigen gegenüber einer fortschreitenden Säkularisierung.

Auch für die Kopftuchträgerinnen selbst hat die Hauptbedeckung unterschiedlichste Bedeutungen, wie Birgit Rommelspacher aufgezeigt hat. Das Kopftuch kann ebenso Ausdruck religiöser Überzeugung wie patriarchalischen Zwanges sein, ist aber auch politisch-symbolisches Kampfmittel – weniger zur Einführung der Scharia in Deutschland denn zur Durchsetzung kultureller Hegemonie einer spezifischen, vermeintlich „gesetzestreuen“ Islaminterpretation und als Vorläufer weitergehender Forderungen nach Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum. Diese Vielfalt der Bedeutungen macht den Umgang mit dem Thema schwierig.

Dabei ist das Kopftuch in Deutschland längst zu einer Normalität geworden. Durch die Zuwanderung hat sich auch die religiöse Landschaft verändert. Muslime – neben Migranten aus islamischen Ländern auch etwa 500.000 deutsche Staatsangehörige – bilden nach den beiden christlichen heute die drittgrößte Glaubensgemeinschaft der Bundesrepublik. Ihre religiöse Anliegen hat die deutsche Gesellschaft – wie die Einwanderungstatsache selbst – lange Zeit ignoriert und das Feld auch zweifelhaften islamistisch-politischen Organisationen überlassen. Die Religion der Migranten spielte öffentlich so lange kaum eine Rolle, wie das Freitagsgebet in der Hinterhofmoschee verrichtet wurde und das Kopftuch nur das Haar der türkischen Putzfrau verdeckte.

In dem Maße aber, in dem Muslime in Deutschland selbstbewusst und öffentlich ihren Platz in allen Gesellschaftsbereichen und -schichten einfordern, entstehen gesellschaftliche Konfliktfelder, ob es sich nun um repräsentative Moscheebauten, islamischen Religionsunterricht, das Schächten oder das Kopftuch muslimischer Lehrerinnen handelt. Der – berechtigte – Ruf nach Gleichbehandlung, Schutz vor Diskriminierung und Religionsfreiheit verlangt Klärungen, die oft genug vor Gerichten gesucht werden. Doch legitimiert die Berufung auf diese Grundrechte schon jedes Anliegen, welches von muslimischer Seite vorgetragen wird? Die Lösung kann weder in deren schlichter Übernahme noch in einer pauschalen Ablehnung liegen.

In einer pluralistischen Gesellschaft muss die Balance zwischen generellen Normen und differenten Lebensstilen immer neu gefunden werden. Dies erfordert Kompromisse von allen Beteiligten. Angesichts der islamischen Realität in unserem Land bedarf es neuer Verhandlungen. Es geht eben nicht nur um den Umgang mit dem Islam, es geht auch immer um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Dies gilt auch und insbesondere für die Schule. Gerade hier sind die verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen der Glaubens- und Religionsfreiheit ebenso wie die Neutralitätspflicht des Staates zu beachten. Doch ist das Neutralitätsgebot gleichbedeutend mit der Pflicht zur Säkularisierung? Für Sanem Kleff lautet die „Kernfrage“: Will das vereinte Deutschland ein säkularer Staat sein? Sie beantwortet sie mit einem klaren Ja.

Die Forderung nach strikter Säkularisierung aber überzieht das Neutralitätsgebot, wenn sie jedes religiöse Bekenntnis von Individuen aus dem öffentlichen Raum verbannen will. Aus gutem Grund beschränkt sich das Neutralitätsgebot bisher auf ein Gebot der religiösen Zurückhaltung und ein Verbot der einseitigen Bevorzugung eines Glaubensbekenntnisses. Deutschland kennt im öffentlichen Schulwesen eben keine strikte Trennung von Staat und Religion. Die Neutralität des Staates gibt religiösen Ausdrucksformen Raum, ohne sich mit ihnen zu identifizieren oder durch sie zu indoktrinieren. Erziehung in diesem staatlich vorgegeben Rahmen fordert die authentische Persönlichkeit und die gelebte Religiosität der Erziehenden. Kurz: Pluralität ja, Missionierung nein.

Konsequente Säkularisierung hieße Verzicht auf Weihnachtsfeier und Osterferien ebenso wie auf Religionsunterricht. Zu Recht würde dieser Verzicht auf christlich-abendländische Traditionen mehrheitlich als Zumutung empfunden. Es geht nicht darum, die besondere Rolle der Kirchen „auf Ewigkeit“ (Kleff) festzuschreiben. Aber der Weg zur Gleichbehandlung und Integration zugewanderter Religionen in der Schule führt nicht über die Tilgung der religiösen und kulturellen Traditionsbestände. Er führt über die Erweiterung des pluralen Spektrums um neue religiöse und kulturelle Traditionen und interkulturelle Öffnung. Es gilt, den Islam einzubürgern.

Die Forderung nach strikter Säkularisierung überzieht das Neutralitätsgebot des deutschen Staates

Gerade das Zurückhaltungsgebot gibt hierzu die Möglichkeit. Es bindet die Lehrkräfte an den staatlichen Erziehungsauftrag und bietet dennoch Raum für Persönlichkeit. Die bisherigen Erfahrungen mit Kopftuch tragenden Lehrerinnen an deutschen Schulen lassen nicht auf ein verbreitetes Missionierungsverhalten schließen. Schulaufsicht und Disziplinarrecht bieten ausreichend Möglichkeiten, einer solchen Grenzüberschreitung entgegenzuwirken, ohne ein Berufsverbot an äußeren Merkmalen wie dem Kopftuch anzuknüpfen. Von islamischen, christlichen wie atheistischen Lehrkräften ist Erziehung zu Demokratie, Toleranz und Pluralismus zu verlangen. Wer mit dem Kopftuch durch die Wand will und die eigene Anschauung absolut setzt, hat an einer Schule nichts zu suchen. Dies gilt auch für weitergehende Forderungen nach Separierung von Mädchen und Jungen im Schulalltag, die dem Gleichheitsgrundsatz und dem Prinzip der Koedukation widersprechen.

Eine solche „Einbürgerung“ des Islam im Rahmen gesellschaftlicher Aushandlung beinhaltet Zumutungen für alle Beteiligten: für die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die sich öffnen muss, ohne sich selbst aufzugeben; mehr sicherlich noch für die Zugewanderten, die ihre Anliegen an das historisch gewachsene Selbstverständnis dieser Gesellschaft anpassen müssen, um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration zu erfüllen. Für alle Beteiligten zusammen ist dies ein anstrengender und bisweilen schmerzhafter Prozess, da er das eigene Selbstverständnis in Frage stellt. Das Urteil des Verfassungsgerichts wird hier keinen Schlusspunkt setzen können, sondern bestenfalls eine Wegmarke sein.

MARIELUISE BECK