nebensachen aus peking
: In Peking erinnert nichts mehr an die Sars-Katastrophenstimmung vom Frühjahr

Von Nachdenklichkeit oder großer Fortschrittsdebatte fehlt jede Spur

Dem Reisenden kann im Pekinger Flughafen noch einmal der Schreck in die Glieder fahren: Uniformierte mit Atemschutz verlangen nach einer schriftlichen Bestätigung, dass man zuvor mit keinem Sars-Kranken in Kontakt war. Doch draußen ist Peking längst wieder das alte: eine Stadt voller Dünste und Abgase, verstaubt und ruhelos, hektisch und aggressiv auf der Jagd nach neuem Reichtum.

Für ein paar lange Wochen im Frühjahr war alles anders: Die Hoffnung auf Fortschritt, das Vertrauen in Politik und Medien, der Alltag mit Nachbarn und Kollegen – nichts schien der neuen Viruskrankheit standzuhalten. Tausende zwang sie in Quarantäne. Millionen flüchteten aufs Land. Allein Familie und engste Freunde boten ein Refugium vor dem Virus.

Bis die Krankheit so schnell verschwand, wie sie aufgetaucht war. Nichts im öffentlichen Leben erinnert an die Katastrophenstimmung vom Frühjahr. War Sars nur eine Naturbosheit ohne Folgen? So sehen es die Bauern und Gemüsehändler auf dem Markt am Pekinger Arbeiterstadion: „Wer weiß schon, woher die Seuche kam?“, sagt der Pfirsichverkäufer aus der Provinz Anhui. Wichtig ist, dass sich die Ernte jetzt gut verkauft. Und weil sich nicht nur Pfirsiche, sondern auch Computer, Autos und Wohnungen gut verkaufen, glaubt man, die Welt sei wieder in Ordnung: „Morgens und mittags wird der Marktplatz desinfiziert. Das ist ein großer Fortschritt“, erklärt ein Müllfahrradfahrer am Arbeiterstadion.

Nur die Sars-Gewinnler schimpfen – wie der Vorsteher einer Pekinger Abfallsammelstelle, dem man in der Krisenzeit zwei neue Mitarbeiter zuteilte. Die sind nun wieder entlassen und der Müllmann fürchtet selbst um seinen Job: „Während der Seuche traute sich niemand in die Stadt. Doch jetzt kommen wieder die billigen Arbeiter aus der Provinz und nehmen uns Pekingern die Arbeitsplätze weg.“

Von einer neuen Nachdenklichkeit ist auch unter Pekinger Intellektuellen nichts zu spüren. Zwar trifft man auf Künstler, die versuchen, den Sars-Effekt auf ihr Werk zu verstärken, indem sie sich bis heute in ihren Ateliers verstecken. Doch schätzt die Szene die politischen Folgen von Sars eher positiv ein: War es doch angeblich die alte Regierung unter Expräsident Jiang Zemin, die den Ausbruch der Seuche verschwiegen hatte, während das im März installierte Kabinett unter Parteichef Hu Jintao sich profilierte, indem es den Medien Berichterstattungsfreiheit einräumte. „Jiang plagt heute die Angst, in schnelle Vergessenheit zu geraten, während Hu sein Image verbessern konnte“, resümiert ein Fernsehautor die Sars-Krise. Er hat zudem beobachtet, dass schlechte Nachrichten in den Staatsmedien kein Tabu mehr sind.

Wo aber bleibt die große Fortschrittsdebatte? Zeigte der Sars-Notstand nicht, dass China sein Gesundheitssystem völlig vernachlässigt hat? „Das sind deutsche Überlegungen“, erklärt eine Pekinger Kinderbuchübersetzerin. „Mir würde es schon reichen, wenn die Männer nicht vergessen, dass Spucken ansteckend sein kann, und es unterlassen“.GEORG BLUME