Ein bisschen Süchtigsein

Im ColumbiaFritz versuchten sich Stereo Total an „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Kurz bevor der Abend Richtung Schülertheater abbog, fingen sie ihn mit ihren Fetenhits auf, verwandelten Widerstand von gestern in Spaß von heute

Das hat Stil, schlittert allerdings am regressiven Frohsinn des Privatfernsehens vorbei

Im Biergarten des ColumbiaFritz sitzt ein Mann und liest in Miteinander leben lernen. Es ist die „Denkübungen“-Ausgabe vom Januar, in der die Zeitschrift für Tiefenpsychologie Themen wie „Geheimdienste und Kriminalität“ oder „Der objektive Geist als Erzieher“ behandelt. Der Mann Mitte vierzig liest ruhig und konzentriert, obwohl das Konzert von Stereo Total jeden Moment beginnen wird. Danach verliert sich seine Spur. Offenbar hat er keinen Platz mehr vorne vor der Bühne zwischen all den eingefleischten Fans gefunden, die Schilder mitgebracht haben, auf denen die Titel ihrer Lieblingshits stehen, und ganz oft „Françoise, ich liebe dich!“ rufen oder auch „Brezel, Brezel!“. Vielleicht ist er auch bloß wegen der Ankündigung gekommen, dass Stereo Total an diesem Abend den Film „Christiane F. – wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ neu interpretieren und vertonen wollen. Schließlich muss irgendwann jeder mit den Junkies am Kottbusser Tor leben lernen. Warum also nicht bei einem Popkonzert den Einstieg wagen?

Doch dafür sind Stereo Total die falsche Wahl. Françoise Cactus hasst zwar Heroin, wie mir eine Freundin von ihr zwischendurch erzählt. Aber das Duo mag dafür die Kaputtheit der frühen Achtzigerjahre umso mehr, mag die Images aus dem verranzten Drogenabhängigenmilieu, das in Uli Edels Film von 1981 hennarot gefärbte Haare, Kunstlederjacken und enge Wrangler-Jeans zur Musik von David Bowie trug. Passt ja auch zum derzeitigen New-Wave-Remake, so ein bisschen Süchtigsein. Zumal die reale Christiane F. früher mit Leuten in WGs gewohnt hat, die heute zu Ausstellungseröffnungen kommen, bei denen Françoise Cactus ihre Sex-Art-Bilder zeigt. So bleibt halt alles Familie.

Auf der Bühne sieht die Verstrickung aus privaten und subkulturellen Mythen noch etwas anders aus. Stereo Total tragen Partnerlook, zweimal schwarze Lacklederhosen, zweimal 80er-Jackett und streifendünnen Schlips. Rechts hängt ein Poster von David Bowie aus der Aladdin-Sane-Phase, im Hintergrund laufen kurze Videoclips, die im Schnelldurchlauf Christianes Weg vom Gropiusstädter Teenager zum Heroinmonster nachspielen – very Low-Budget, mit Kumpels gedreht, die am Ku’damm durch Shopping-Malls hopsen, während Cactus und Göring live eine tolle Fassung von „Heroes“ runterpunkrocken. Da staunt man über die souveräne Aneignung, bis die Freundin meckert, weil mit solchen Bildern genauso gut Reklame für Levi’s gemacht werden könnte. Sie hat ja recht, ist aber schon auch Klasse.

Die Nummernrevue dient nur als Vorspiel, dann biegt der Abend Richtung Schülertheater ab. Eine Laientruppe schlurft in mattem Scheinwerferlicht umher, spricht Dialoge aus dem Original nach und redet auch sonst in Berliner Zungen. Razi, der früher bei den Golden Showers sang, verteilt als Dealer den Stoff; Rosa macht auf Turkey und setzt sich eine Simulationsspritze. Die Christiane-F.-Imitatorin ist schlecht zu verstehen, weil Mikros fehlen. Der Trubel ist trotzdem beschwingt dilettantisch und entwickelt sich mehr und mehr zu einem Prater-Abend, statt Polleschs politgeschulten Anti-Theaters gibt es Kreuzberger Anti-Entertainment. Auch das hat Stil, schlittert allerdings scharf am regressiven Frohsinn der privatfernsehformatierten Funkultur vorbei – selbst guter Trash ist mittlerweile ein hart umkämpftes Terrain, auf dem falsche Freunde wildern.

Endlich sind Babsi, Alex und überhaupt das ganze Drogendrama tot. Ein wenig verwurschtelt und ohne tragischen Höhepunkt. Françoise Cactus bedankt sich bei den Mitwirkenden, und nach einem Umbau geht es weiter im Konzert. Offenbar mögen Stereo Total sich nicht aufs Experiment festlegen, deshalb werden zwei Stunden mit Fetenhits aus dem Bandrepertoire nachgelegt. Rumpelnde Technobässe vom Band, Cactus mäht ihr Schlagzeug, Göring gibt seine extrem verzerrte Baukastenelektronik dazu. Garagenbilly, Billigdisko, Schnapschansons und aufgekratzter Schlagerkrach: Stellt man sich die Musik von Stereo Total als Trümmerhaufen der New-Wave-Geschichte vor, dann ist das hier nicht der Soundtrack zum Weltuntergang, sondern eine klofroschgrüne Wiese voll Sachen, die möglich waren im Widerstand gegen den Wohlstandsmuff der 80er-Jahre.

Nur sind, das sieht man am Publikum, die Übergänge verschwunden, die Dabeisei-Hipster und das nachahmende Fußvolk voneinander trennten. Zu „Holiday Inn“ tauen gleich dutzendweise MedienpraktikantInnen auf, wie bei einer Karaoke-Party im Betrieb. Die Freude in ihren Gesichtern, wenn Brezel Göring mit dem Unterleib zu „Push it“ rüttelt, ist echter als Verweigerung von gestern. Vielleicht macht Spaß tatsächlich alle gleich, vielleicht kocht Cactus demnächst ihre Nudeln bei Zacherl. Vielleicht sind Stereo Total schon immer die Superstars gewesen, nach denen Deutschland sucht. HARALD FRICKE