bernhard pötter über Kinder
: Zu faul für die Faulheit

Wir nennen es Muße, sie nennen es Langeweile: Warum Kinder beschäftigt werden wollen

Es ist wie die Anfangsszene von „Spiel mir das Lied vom Tod“: Ein drückend heißer Nachmittag in einem gottverlassenen Provinznest. Der Schweiß läuft, tropft, rinnt und sickert an uns herunter. Eine Fliege brummt durch die hitzegefüllte Stille. Weit hinten im Garten ächzt ein Mann. Auf der Terrasse knarrt ein Stuhl. In mein Ohr schreit Tina: „Papa, spielen!“

Es ist der Zustand, der Eltern und Kinder in zwei antagonistische Lager trennt. Wir nennen es Muße. Sie nennen es Langeweile.

Denn still liegen, rumdösen, lesen, schlafen oder den Wolken zusehen, das können nur Erwachsene. Selbst wenn es so heiß ist, dass das Moos in den Terrassenritzen verdampft und wir Angst haben, ein Eis zu essen, weil wir den Sonnenbrand auf der Zunge fürchten – für die Kinder muss der Laden in Schwung kommen. Wenn Tina nichts zu tun hat, fängt sie an zu quengeln. Sie beißt in meine nackten Zehen. Sie schmeißt mit ihren Murmeln.

Sie qualifiziert sich für eine Maßnahme.

Also hole ich die Boccia-Kugeln. Tina pflückt sie aus der Tragetasche und lässt eine Kugel nach der anderen mit Gepolter über die Terrasse rumpeln, bis sie an die Blumentöpfe kollern. Dann läuft sie nach vorn und sammelt sie wieder ein. Und noch einmal: Kugeln über die Steinterrasse kollern lassen, zusehen, wie sie an die Töpfe knallen. Einsammeln. Kollern. Einsammeln. Kollern. Ihre Begeisterung wächst und wächst. Ich gleite zurück in meine 32-gradige Lethargie.

„Na, was macht die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme?“, fragt Anna, als sie sich neben mich fallen lässt. Für eine kurze Atempause ist sie Jonas entkommen. Ansonsten besteht auch ihr Platz an der Sonne darin, mit ihm zu planschen, Fußball zu spielen, auf den Baum zu klettern, Hummeln zu jagen, ihm ein Buch vorzulesen oder ihm Essen und Trinken zu besorgen. Jonas ist kein Zappelphilipp, er hat kein Aufmerksamkeit-Defizit-Syndrom; er ist nur ein knapp Fünfjähriger, dessen Körper von morgens um sieben bis abends um acht vor Bewegungsdrang vibriert. Wir könnten ihn auf einen Fahrraddynamo setzen und er würde unseren Strom erzeugen. Ökologisch korrekt und abgasfrei.

Eigentlich eine gute Idee. Leider funktioniert sie nicht. Denn auch wenn Jonas schon mal eine Stunde ganz allein mit seinem Lego spielt, braucht er immer wieder elterlichen Rat, welchen Quatsch er danach ganz bestimmt nicht anstellen darf, um ihn anzustellen. Denn in der Hitliste elterlicher Qualifikationen kommt gleich nach Wickeln, Füttern und Schmusen: das Beschäftigen.

Das klingt verdächtig nach einer anderen guten Idee. Der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Erwachsene. Damit sind gar nicht die Legionen von Menschen gemeint, die im Park die Hecken schneiden, den Müll aufsammeln oder in der Kita die Erzieherinnen unterstützen. Denn trotz deren heldenhaften Einsatzes gibt es immer noch viel zu viele ungeschnittene Hecken, zu viel Müll und zu wenig Erzieherinnen. Nein, wirklich erstaunlich ist, wie sich das Modell ABM im Rest unseres Lebens breit gemacht hat. Wie froh wir sind, wenn uns jemand sagt, wo es langgeht – gar nicht so sehr im politischen Bereich, sondern vor allem da, wo wir eigentlich nur wir selbst sein sollten: bei der Freizeit und im Urlaub. Erstaunlich, wie wir auch dort unsere Eigeninitiative an der Garderobe abgeben: Wir lassen uns bei der Kaffeefahrt rumkutschieren, wir überlassen die Gestaltung des Abendprogramms dem Fernsehen und wir fahren nur dorthin in den Urlaub, wo wir von Animateuren gesagt bekommen, wann wir lustig und gesellig zu sein haben.

Woher kommt diese Bereitschaft, sich von anderen beschäftigen zu lassen? „Vom Sozialstaat“, rufen die Rechten. „Von der Angst vor gnadenloser Konkurrenz“, schreien die Linken. „Von der Faulheit“, sagt Anna, als Jonas sie schon wieder zur nächsten Wasserschlacht abholt.

Kann man denn zu faul sein zum Faulsein? Braucht es eine gewisse Anstrengung, eine Überlegung und ein Konzept, mit bestem Gewissen nichts zu tun? Und wirft sich dann, wer diese Anstrengung scheut, der Beschäftigungsmaschinerie und Arbeitsbeschaffungsindustrie in die Arme? Sind die ganzen freizeitstressgeplagten Menschen in ihren Animierclubs einfach nur zu träge, um zu sagen: Jetzt ist mal Ruhe hier?

Schließlich ist die Faulheit schon seit über 100 Jahren als fortschrittlich geadelt – jedenfalls von dem französischen Sozialisten und Journalisten Paul Lafargue. Der forderte ein „Recht auf Faulheit“, wo es en vogue war, sich totzurackern, und verkündete: „Alles individuelle und soziale Elend entstammt der Leidenschaft für die Arbeit.“

Wenn wir davon absehen, wie viel oder wenig faul jemand sein kann, der ein solches Buch konzipiert und schreibt, gewinnt Paul Lafargue noch aus einem anderen Grund große Bedeutung: Er war der Schwiegersohn von Karl Marx. Und für den war Faulheit eigentlich keine ernst zu nehmende Kategorie.

Für meinen Schwiegervater dagegen ist Karl Marx keine ernst zu nehmende Kategorie. Aber über die Faulheit macht er sich auch so seine Gedanken. Warum sonst hätten mir meine Schwiegereltern zu Beginn meines Erziehungsurlaubs dieses Kinderbuch geschenkt: „Bernhard, der Müßiggänger“?

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