ES GIBT ZU VIELE GRÜNDE, NICHT IN EINE VOLKSPARTEI EINZUTRETEN
: „Reformen“ zehren an der Substanz

Sonst kennen wir das Verfahren nur bei defekten Autoserien: die Rückholaktion. Zu diesem letzten Mittel griff jetzt Gerhard Schröder, Autoliebhaber und gleichzeitig Vorsitzender der SPD, um 22.000 GenossInnen mittels Handschreiben in den Schoß der Partei zurückzuholen. So viele Mitglieder hatten im Gefolge der Agenda 2010 die Partei verlassen. Aber anders als die Eigner mängelbehafteter Pkws werden die rückkehrwilligen Sozialdemokraten keine neue Partei bekommen.

Die Austrittswelle dieses Jahres fügt sich harmonisch in einen lang anhaltenden Abwärtstrend ein. Die Parteiführung kann Trost nur aus der Tatsache schöpfen, dass es bei der CDU nicht besser aussieht. Was heißt eigentlich heute „Volk“ im Zusammenhang mit Partei? Wo steckt es nur, das Volk? Wie wir aus empirischen Untersuchungen wissen, wendet es sich keineswegs verdrossen von der Politik ab, sondern nur von den politischen Parteien. Vor allem die heiß begehrten Jugendlichen engagieren sich nicht nur in Sportvereinen. Sie suchen nach Gruppen und Initiativen, die dreierlei verbürgen: erstens ein überschaubares Aktionsfeld mit demokratischen Verkehrsformen und Mitspracherechten, zweitens freie Hand hinsichtlich der Intensität und der Dauer ihres Engagements, drittens und wichtigstens: klare, durchargumentierte Antworten auf gesellschaftliche Probleme.

Das alles finden sie nicht bei den „Volksparteien“. Gegen deren Schwächen kursieren von der Schnuppermitgliedschaft über vorgelagerte Foren für Intellektuelle bis hin zur Verstärkung demokratischer Einflussnahme der Mitglieder (zum Beispiel durch Vorwahlen) allerlei Heilmittelchen. Aber ihr Effekt ist gering. Entgegen der vorherrschenden Meinung, dass im Bereich der Politik alles zu komplex sei, existiert unter denen, die zum Engagement bereit sind, ein Bedürfnis nach klar umrissenen programmatischen Vorstellungen, nach einer Reformstrategie. Das Manöver aber, das gegenwärtig unter der Flagge „Reform“ abgehalten wird, zehrt beide „Volksparteien“ weiter aus. Denn für Scheinalternativen ist auch den jungen Leuten das Leben zu kurz. CHRISTIAN SEMLER