Hinter all den Bildern eine Stadt

Anleitung zum Orientierungsverlust: Die Wanderausstellung „Im Blick: Berlin“ versammelt Fotografien aus den Archiven der 18 Berliner Heimatmuseen. Sie lädt den Flaneur zum wilden Spaziergang quer durch die Stadtbezirke und Jahrhunderte ein

von RONALD BERG

„Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Wald sich verirrt, braucht Schulung.“ Diese Schulung, von der Walter Benjamin einst sprach, offeriert nun die Ausstellung „Im Blick: Berlin“. 18 Berliner Heimatmuseen haben ihre Fotobestände durchforstet und aus rund 400 Bildern, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis fast in die unmittelbare Gegenwart, einen virtuellen Gang durch eine fremdartig-vertraute Stadt gemacht.

Die Stadt heißt Berlin, sieht aber ihrem aktuellen Weichbild und ihren derzeitigen Bewohnern nicht immer ganz ähnlich.

Manche der fotografierten Straßen kommen einem allerdings bekannt vor. Das Alte Eierhaus an der Spree in Treptow zum Beispiel: Um 1904 drängten sich hier die Menschen in ihrem Sonntagsstaat dicht auf dicht auf der Terrasse.

Die relativ große Kollodiumaufnahme lässt einen die Szenerie genauer studieren: Die Matrosenanzüge der Jungen, die Schleifen im Haar der Mädchen, die gemusterten Tischdecken, auf denen die Bierseidel stehen, der qualmende Dampfer auf dem Fluss. Als gute alte Zeit, so bietet sich das bräunlich-blasse Foto dem heutigen Blick. Die Szenerie am Eierhaus, so bekannt uns das Gebäude sein mag, wird doch zum Traumschloss einer Fantasie, die das Gewesene jenseits des eigenen Erinnerungshorizonts mit Wünschen – oder auch Ängsten – belebt.

Ganz anders die Bilder vom 1. Mai 1989: Schlacht am Lausitzer Platz. Ein Trupp Polizisten, zusammengedrängt unter dem Schutz ihrer Plexiglasschilde, hier, eine Gruppe von Autonomen beim Umstürzen eines Mercedes da. Als Zeitzeuge weiß man vielleicht noch mehr als das Foto, kennt den fehlenden Geruch der abgefackelten Autos und die Geräusche der Steinhagel auf den Schilden.

Hans-Peter Stiebing, so liest man, hat die Bilder in hartem Schwarzweiß fotografiert, ein Berliner Heimatmuseum hat sie archiviert – wie die anderen der vermutlich mehr als eine halbe Million Fotos in ihren Beständen.

Normalerweise dienen diese Fotos dazu, eine Chronik der lokalen Geschichte zu illustrieren. Das große Verdienst der Wanderausstellung „Im Blick: Berlin“ ist es, diese Fotografien vom begrenzten dokumentarischen Interesse gelöst zu haben. Die vorgegebene Ordnung (oder Unordnung) der Ausstellung mit ihren 39 beliebig gewählten Themen, von Ballonfliegerwettbewerb über das Weddinger Bauschaffen bis zum Spandauer Militär, gibt für eine wilde Lesart Anhaltspunkte vor: Man kann sich für Moden oder Bauten, Kriegszeiten oder Arbeitswelten interessieren.

Bei allen persönlichen Vorlieben oder vorgegebenen Themen bleibt aber doch allen Fotos eines gemeinsam: Es ist der Blick auf Berlin. Und so wie der Flaneur gelernt hat, sich in der Stadt zu verirren, wie noch das kleinste Detail im Straßenbild ihn in seiner Bahn ablenkt, so bietet die überreiche Fülle der fotografischen Eindrücke doch genügend Anlass, sich in Zeit und Raum zu verlieren, ob man Berlin zu kennen meint oder nicht.

Diese Fotografien können Erinnerungen anstoßen, sie entführen in andere Zeiten, sie evozieren Stimmungen, wie sie nur die Vergangenheit kannte, weil Berlin – wir wissen es – stets im Werden und nie im Sein existiert. Das Leben geht weiter, es bleiben aber die Fotografien. Ihr Gesichtskreis reicht selbst dorthin, wo die Erinnerung versagt.

„So ist es gewesen“, lautet die Bestimmung der Fotografie, Fotograf und Kamera waren dabei: In der neuen Musterkolonie in den Rehbergen um 1930, im Fotoatelier um 1900 mit Herr und Hund auf einer Bank vor gemaltem Prospekt, oder auf der Schönhauser Allee, irgendwann in den Jahren zwischen 1979 und 1982, als es vor dem „Kaufhaus Fix“ einmal zu einem regelrechten Stau von Kinderwagen kam. Unbehindert von Zeit und Raum, gewähren solche Bilder Blicke auf ein heimliches Berlin, die dem Flaneur als wahrer Schatz erscheinen müssen.

Die Fotoausstellung „Im Blick: Berlin“ ist noch bis zum 23. 8. im Heimatmuseum Köpenick zu sehen, ab 31. 8. im Stadtgeschichtlichen Museum Spandau und vom 24. 10. bis 14. 12. im Heimatmuseum Reinickendorf. Katalog 7,80 €