Collinas letzter Pfiff

Der Italiener Pierluigi Collina ist der einzige Star der Schiri-Branche. Seine Karriere muss er dennoch beenden, schließlich wird er im Februar 45. Heute tritt er zum letzten Mal auf großer Bühne auf

AUS LISSABON RALF ITZEL

„Komm, steh wieder auf, Junge, das glaubt dir doch keiner.“ Dieser oder ein ähnlicher Gedanke dürfte Pierluigi Collina neulich beim Spiel zwischen England und Kroatien durch den kahlen Kopf gegangen sein. Der Brite Rooney fabrizierte zu Beginn eine peinliche Schwalbe, und andere Schiedsrichter hätten ihn dafür sicher verwarnt, um sich gleich Respekt zu verschaffen. Collina hat das längst nicht mehr nötig. Er ließ die Karte stecken, schließlich hatte sich der 18-Jährige lächerlich genug gemacht.

Das soll aber nicht heißen, dass Collina auf dem Platz Freunde kennt. Im Eröffnungsspiel verhängte er einen Elfmeter für Griechenland gegen Portugal und versaute dem Gastgeber das Fest. Nicht sein Problem, aber Mitgefühl zeigte er trotzdem. Für den Sünder Christiano Ronaldo gab es diese typische Collina-Geste: Tut mir Leid, aber was soll ich tun? Zwischen Heim- und Auswärtsmannschaft macht er keinen Unterschied. Bei der EM vor vier Jahren pfiff er einen Strafstoß für Ausrichter Holland gegen die Tschechische Republik. Dem schimpfenden Radoslav Latal hielt er die rote Karte vor die Nase, obwohl er gar nicht mitspielte, sondern von der Bank aus meckerte. Eine tschechische Zeitung entblödete sich nicht, Collina mit Benito Mussolini zu vergleichen, ebenfalls kahlköpfig. Derweil zeigten Zeitlupen, dass er beim Elfmeter richtig lag.

Die guten Leistungen, die Glatze, der stechende Blick und die Körpersprache haben den Italiener zum einzigen Star seiner Zunft gemacht. Man kennt ihn weltweit, viele Fußballer träumen von seiner Popularität. Schade, dass seine Laufbahn nun zu Ende geht. Das heutige Halbfinale zwischen Tschechen und Griechen ist der letzte Auftritt auf der großen Bühne. Im Februar wird er 45 und erreicht die Altersgrenze des europäischen Fußballballverbandes.

Viele hätten Collina gerne noch länger dabei. José Mourinho, der im Mai den FC Porto zum Triumph in der Champions League führte, würde ihm zumindest noch einen goldenen Ball, sonst für die besten Kicker reserviert, überreichen, denn: „Er nennt die Spieler beim Namen, entschuldigt sich bei uns Trainern, wenn er mal danebenliegt, trifft keine dummen Konzessionsentscheidungen und lässt sich nicht unter Druck setzen.“ Obwohl er so sicher wirkt, hat Collina einmal zugegeben, sich auf dem Rasen oft einsam zu fühlen: „Ich habe niemanden, auf den ich mich stützen kann.“ Die Kraft holt er sich in Viareggio in der Toskana, wo er mit Frau und Töchterchen lebt. Eigentlich ist er Finanzberater einer Bank, aber der Fußball ist es, der ihn reich und berühmt gemacht hat. Vor wenigen Monaten kam seine Biografie auf den Markt („le mie regole del gioco – die Regeln des Spiels“), eine eigene Homepage hat er auch. Sogar für die Werbung ist er interessant. Vor ein paar Jahren ersetzte ein Schweizer Uhrmacher das Modell Laetitia Casta auf dem italienischen Markt durch ihn. Eine Studie unter Frauen hatte ergeben, dass Collina der Schiedsrichter mit dem meisten Sexappeal ist. Das muss an der Glatze liegen. Eine seltene Krankheit raubte ihm mit 24 alle Haare.

„Heute ist das Erscheinungsbild wichtig“ sagt er, „aber die Verpackung ist nicht alles. Wenn das Produkt nicht zuverlässig ist, merken das die Leute. Ich fühle mich geschmeichelt, dass man mich schätzt, aber ich denke, dass ich dafür hart gearbeitet habe.“ Er ist immer gut vorbereitet, studiert die Taktik der Teams und die Positionen der Akteure. Sein tollstes Erlebnis war das Viertelfinale der Champions League letztes Jahr zwischen Manchester United und Real Madrid (4:3), denn „beide Teams dachten nur daran, Tore zu machen. Ein italienischer Trainer hätte einen Herzinfarkt erlitten.“

Collina hat viel erlebt. Das Champions-League-Finale 1999, als Manchester United dem FC Bayern in der Nachspielzeit den Cup noch entriss, das WM-Endspiel 2002, als Ronaldo gegen Kahn gewann. Seine Entscheidungen können Karrieren bestimmen, trotzdem behauptet er, Fehler nicht zu bereuen: „Warum sollte ich, wenn ich mich gut vorbereitet und mein Bestes gegeben habe? Ich habe zwei Augen, nicht zwanzig Kameras.“ Sein Blick gilt dabei mehr den Details als dem Gesamtbild: „Oft erfahre ich erst im Fernsehen, wer die Tore erzielt hat.“

Künftig wird er die Spiele relaxed im Sessel genießen können. Gerne auch Basketball, er ist Fan von Fortitude Bologna, dem Verein seiner Geburtsstadt. Spieler, Trainer und Fans werden ihn vermissen, und den jungen Schiedsrichtern geht ein Vorbild verloren. Für sie hat er ein besonderes Herz, und er regt sich mächtig darüber auf, wie manche Kollegen bei Kinder- und Jugendpartien von aufgebrachten Eltern behandelt werden: „Ohne den Schiedsrichter könnte die Partie nicht stattfinden. Er opfert seinen Vormittag, manchmal bei Regen und Kälte, für Spieler eines schwachen Niveaus, er leitet ja nicht Maradona, Pelé oder Zidane. Und man beschimpft ihn, anstatt ihm für seinen sozialen Dienst dankbar zu sein.“