Das große Glück der Kleinen

Im Fußball wie im Leben sind die großen Länder abgemeldet. Während Deutsche und Franzosen Trübsal blasen, kommen Portugiesen oder Tschechen ganz groß raus

VON RALPH BOLLMANN

Die Fachwelt gibt sich überrascht. Deutschland, Frankreich, Italien: Von den großen drei der Europäischen Union ist in der Fußballwelt keine Rede mehr. Das Finale der Europameisterschaft machen die Kleinen unter sich aus. Im Quartett der Kleinstaaten nehmen sich die Niederlande mit ihren 16 Millionen Einwohnern schon wie eine Großmacht aus – neben den Zehn-Millionen-Ländchen Griechenland, Portugal und Tschechien.

Aber kommt diese Entwicklung wirklich so völlig überraschend? Schließlich kränkeln die großen Länder auf dem Kontinent auch in Wirtschaft oder Politik schon seit Jahren vor sich hin. Ob Frankreich oder Deutschland, Spanien oder Italien: Überall pendelt die Arbeitslosigkeit seit Jahren um die zehn Prozent, während etwa Portugiesen oder Niederländer nur zu weniger als fünf Prozent arbeitslos sind. Auch in Osteuropa geht diese Rechnung auf, wenn auch auf höherem Niveau: Keines der kleinen Beitrittsländer hat eine Arbeitslosenquote von mehr als zehn Prozent, während im großen Polen stolze 18 Prozent der Erwerbsfähigen auf Jobsuche sind.

Nicht anders als im Fußball ergehen sich die Großen auch auf anderen Feldern allzu leicht in eitler Selbstgefälligkeit. Sie halten es für ein Naturgesetz, dass sie aufgrund der schieren Größe stets ganz vorne spielen, ganz gleich, was sie auch tun. Das beste Beispiel ist auch hierfür Polen. Die Politiker in Warschau wussten ganz genau, dass es eine EU-Erweiterung ohne ihr Land nicht geben könnte – und wurden so zu Sorgenkindern für die Brüsseler Bürokraten.

Schon die großen Umwälzungen der Weltgeschichte gingen meist von kleinen Staaten aus. Die Demokratie wurde im Stadtstaat Athen erfunden, die Renaissance begann in der kleinen Republik Florenz, die Epoche der Entdeckungen wurde vom kleinen Portugal eingeläutet. Der mitteleuropäische Kapitalismus entstand in der Freien Reichsstadt Augsburg, die klassische Epoche der deutschen Literatur fand ihre Heimat im Herzogtum Sachsen-Weimar.

Flexibel, aufgeschlossen, weltgewandt – das sind die Bürger großer Staaten oft schon deshalb nicht, weil der Blick über die eigenen Grenzen am sprachlichen Unvermögen scheitert. Welchen Franzosen, Italiener, Spanier hat man je akzentfrei in einem fremden Idiom parlieren hören? Wer jemals einen Berliner Busfahrer auf Englisch um eine Auskunft bat, der weiß: In Deutschland sieht es nicht viel besser aus.

Das ist kein Wunder, werden doch die Bewohner der genannten Länder in Fernsehen und Kino stets mit Synchronfassungen ausländischer Filme verwöhnt, von Herstellern aus aller Welt mit Gebrauchsanweisungen im eigenen Idiom verzogen. Wer in Rom lebt oder in Paris, in Madrid oder in Rom – der kommt recht gut durchs Leben, ohne sich jemals einer fremden Zunge zu bedienen.

Polyglott in Pilsen oder Pécs

Mit Tschechisch oder Niederländisch, Schwedisch oder Ungarisch kommt man dagegen in der Welt nicht weit. Wer mit einer solchen Muttersprache aufwächst, macht sich die erste Fremdsprache sehr schnell zu Eigen – und nicht selten auch eine zweite oder dritte. Auch das ist übrigens ein Grund, warum Konzerne aus den großen Ländern Westeuropas so gern in Pilsen oder Pécs produzieren. In einem umgekehrten Fall fänden sich in deutschen Handywerken schwerlich Führungskräfte, die mit einer Konzernspitze in Budapest auf Ungarisch kommunizieren könnten.

Gerade neue Trends erspüren Firmen aus den Kleinstaaten oft viel schneller als ihre Kollegen, die sich auf einen vermeintlich sicheren Absatzmarkt von 60 oder 80 Millionen Konsumenten verlassen können. Nicht umsonst gelang es dem Möbelhändler Ingvar Kamprad aus dem kleinen Schweden, die größte Einrichtungskette Europas aufzubauen; und nicht von ungefähr stammt auch das führende Bekleidungshaus aus demselben kleinen Staat.

Während Franzosen, Deutsche oder Italiener unter ermüdenden Reformdebatten ächzen, ohne dass nur der kleinste Hoffnungsschimmer sichtbar wäre, haben Schweden oder Niederländer das Thema schon längst hinter sich gelassen. Im Konsens haben die Stockholmer Politiker den skandinavischen Sozialstaat zurechtgestutzt, im Konsens haben sich in Den Haag Regierung und Tarifpartner mal eben auf einen zweijährigen Lohnverzicht geeinigt.

Offenbar gibt es in Kleinstaaten eher als in großen Ländern jenen Rohstoff, von dem die deutsche SPD-Präsidentschaftskandidatin bis zur Ermüdung sprach: Vertrauen. Nicht ohne Grund waren die politischen Denker bis ins 18. Jahrhundert überzeugt, dass eine demokratische Staatsform nur in kleinen Gemeinwesen möglich sei.

Verhandler voller Vertrauen

Wo ohnehin jeder jeden kennt, können die Akteure auch beim Verhandeln leichter die Hand ausstrecken – ohne die Furcht, gleich über den Tisch gezogen zu werden. In Berlin oder Paris dagegen muss ein Politiker stets kräftig auf die Pauke hauen, damit das Geräusch auch bis zum Schwarzwald oder in die Pyrenäen hallt. Selbst eine veritable Regierungskrise verläuft etwa im kleinen Tschechien, wie dieser Tage zu beobachten, weitaus entspannter als beim großen Nachbarn Polen.

Die große Nähe hat allerdings auch ihre Schattenseiten. Jahrzehntelang war die niederländische Politik so konsensorientiert und tolerant, dass sich die Herrschaft der Vernunft schon wieder in ihr Gegenteil verkehrte. Das Auftreten des Populisten Pim Fortuyn war die logische Folge. Noch extremer verlief die Entwicklung in Österreich. Jahrzehntelang teilten sich Sozialisten und Volkspartei die Pfründen auf, unter dem hübschen Schlagwort von der „Sozialpartnerschaft“ wucherte die Vetternwirtschaft. Erst Jörg Haider mischte die politische Szene an der Donau auf.

Die erzwungene Offenheit nach außen korrespondiert in vielen Kleinstaaten mit einem ausgeprägten Provinzialismus, mit einem Mangel an Konkurrenz und Wettbewerb nach innen. Stets wähnen sich die Bewohner dieser Länder von den großen Staaten umzingelt und bedroht, immer fürchten sie Unterwanderung und Überfremdung – ganz besonders, wenn sie mit dem großen Nachbarn auch die Sprache teilen. So machen zwar viele Schweizer oder Österreicher in der Bundesrepublik Karriere, doch umgekehrt verwahren sich die beiden Alpenländer entschieden gegen deutsches Personal auf Führungsposten in Zürich oder Wien.

Im Wissenschaftsbetrieb etwa lässt sich selbst das Mindestmaß an Transparenz, das sogar an den verfilzten deutschen Hochschulen als selbstverständlich gilt, mangels Masse gar nicht durchsetzen. Wie soll sich etwa die Universität in Laibach gegen Hausberufungen verwahren, wenn es in Slowenien gar keine andere Uni gibt? Wie sollen die Traditionsunis in Coimbra oder Leiden, Löwen oder Prag mit anderen Einrichtungen konkurrieren, wenn ähnlich renommierte Kaderschmieden in ihren Ländern überhaupt nicht existieren?

Grund zur Selbstgerechtigkeit haben die Kleinen aber vor allem deshalb nicht, weil ihr Erfolg ohne die Großen gar nicht möglich wäre. Was wäre die aufstrebende Autoindustrie in Tschechien, der Slowakei und Ungarn ohne das Know-how deutscher oder französischer Konzerne? Wie könnten holländische Spediteure ihr Geld verdienen, wenn nicht auf deutschen Autobahnen? Wie wäre es um die portugiesische Tourismusbranche bestellt, würden nicht Engländer und Deutsche in der Sonne der Algarve braten?

Auch hier drängt sich die Parallele zum Fußball auf: Wie wäre es wohl um die Nationalmannschaften der Kleinstaaten bestellt, würden ihre Stars ihre Brötchen nicht alltags in München oder Manchester, Mailand oder Madrid verdienen – in Ländern also, deren schiere Größe erst das nötige Kleingeld in die Kassen der Clubs fließen lässt. Wer auch immer am Sonntag Europameister wird – ein bisschen haben dann auch die Großen gewonnen.