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Der fremde Präsident

Der unbekannte Präsident hat gründliche Arbeit geleistet. Obwohl er erst vor wenigen Wochen über Nacht aus Washington eingeflogen wurde, hat sich der Noname Horst Köhler inzwischen den Deutschen bei unzähligen Gelegenheiten vorgestellt. Aus „Horst Wer?“ ist inzwischen „Horst Hier!“ geworden. Doch keine Mühe, kein Auftritt und wohl auch nicht seine erste große Ansprache im Amt am heutigen Donnerstag vermögen bisher die Kluft zu schließen: Die Deutschen und ihr neuer Präsident fremdeln.

Vor allem in dem Milieu, auf das Bundespräsidenten sich im Idealfall stützen können, die aufgeklärten, politisch interessierten Bürger, die liberale Presse, die Intellektuellen, fehlt es Köhler bisher weitgehend an Zuspruch, von Hochachtung ganz zu schweigen. An Köhlers Persönlichkeit liegt das nicht. Der vorherrschende Eindruck von Menschen, die Horst Köhler begegnet sind, ist der eines netten Menschen: Einer, der sich Mühe gibt, sich einfach ausdrückt, und viel von Reformen redet. Auch dass den meisten Zeitungslesern und „Tagesschau“-Guckern sein Profil so verschwommen erscheint, liegt zunächst nicht an Köhler, es liegt an seinen Kritikern – ihre Kritik trifft nicht.

Anstoß erregte vor allem die Kungelei der Vorsitzenden von CDU, CSU und FDP, die Köhlers Kandidatur in Guido Westerwelles Wohnzimmer angebahnt hatten. Zum Kanon der Köhlerkritik gehört auch die Behauptung, seine Nominierung habe den Sieg der Märkte über die Moral bedeutet. Verübelt wurde ihm ferner die Weigerung, eine öffentliche Auseinandersetzung mit seiner Konkurrentin von der SPD einzugehen. So zutreffend diese Beobachtungen sind, letztlich bleiben sie in der Umständemäkelei stecken. Nichts davon trifft den Mann als Person und Politiker. Es geht den Kritikern also ähnlich wie den Bürgern, sie kriegen das Objekt ihres Interesses nur schwer zu fassen. Konnte man zunächst annehmen, das liege an fehlender Vertrautheit der Bürger mit dem Präsidenten, spricht inzwischen einiges für das Gegenteil: Es mangelt dem Präsidenten an Vertrautheit mit den Bürgern.

Horst Köhler ist fremd in Deutschland, aber nicht weil er erst kürzlich von ein paar Jahren im Ausland zurückgekehrt ist, sondern weil er die dreißig Jahre davor nicht in sein Leben gelassen hat. Er ist unscheinbar, aber nicht weil er sich verstecken würde, sondern weil er kein Mann der politischen Diskurse ist. Und er lässt sich vermarkten als personifizierter Wegweiser durch die globalisierte Welt, dabei ist er auch in Washington stets und vor allem gewesen, was er immer schon war: Schwabe.

Nach seiner Wahl zum Bundespräsidenten am 23. Mai und vor der morgigen Amtseinführung hat Horst Köhler sich nur mit einem großen Projekt zu Wort gemeldet: einem Interview über 220 Seiten, erschienen als Buch unter dem Titel „Offen will ich sein und notfalls unbequem“. Über mehrere Seiten hinweg befragt darin der konservative Publizist Hugo Müller-Vogg den neuen Bundespräsidenten nach 1968 und den Folgen für sein Leben. So sehr der Fragesteller auch drängt, zu einer völligen Verdammung der Studentenproteste findet Köhler sich nicht bereit: Bei aller Kritik „würde ich die Achtundsechziger-Phase insgesamt nicht als Unglück für die Bundesrepublik betrachten“. Deutlich wird aber die tief verwurzelte Distanz, persönlich wie politisch, des künftigen Bundespräsidenten zum Geist des Aufbruchs von damals. Liegt hier der Kern für die Kühle im Verhältnis von Präsident und liberaler Öffentlichkeit?

Köhlers Fremdeln mit 68 ist mehr als eine Frage von Sozialisation und Milieuzugehörigkeit. 68 steht heute für einige Errungenschaften der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte – für den gesellschaftlichen Wert der Kritik, für das Hinterfragen von Autoritäten, für ein Bekenntnis zu gebrochenen Biografien, für Freiheit von Scham, Angst oder Aggression bei Themen, die die alte Bundesrepublik schaudern machten: Sex, Gleichberechtigung und persönliche Sinnsuche. Das sind nicht die Themen von Horst Köhler. Vor allem aber steht 68 für den Wert des Diskurses, der argumentativen Auseinandersetzung um richtige Wege, auch wenn so mancher Sozialkundelehrer dieses Ideal geschändet hat, bis Schülern wie Guido Westerwelle nur noch die Flucht in die lebenslange infantile Rebellion dagegen blieb.

Was hier, zugegeben arg verkürzt, auf die Chiffre 68 gebracht wird, ist nicht weniger als die Demokratie, wie sie die Bundesrepublik von heute ausmacht. Pointierter gesagt: Das Erbe von 68 ist das Bundesrepublikanische an der Demokratie hierzulande. Insofern hat dieses Erbe längst die Gesellschaft als Ganzes verändert, weit über die Kreise und Alterskohorten derer hinaus, die sich selbst als 68er oder ihre Kinder beschreiben würden.

Von dieser Entwicklung ist Horst Köhler weitgehend unberührt geblieben. Biografisch ist das seinem Leben als strebsamer Beamter und Häuslebauer geschuldet und nicht weiter tragisch. Politisch aber bedeutet es, dass ihm die Tragweite dieses ersten Reformprozesses der Nachkriegsrepublik fremd ist. Während also die Werte von 68 in Deutschland Allgemeingut geworden sind, wird ein Mann Präsident, der mit der wohl tiefgreifendsten Veränderung Deutschlands neben der Wiedervereinigung nichts anfangen kann. Nicht weil er mal sechs Jahre im Ausland gelebt hat, ist Horst Köhler ein Fremder in seiner Heimat, sondern weil er in den drei Jahrzehnten davor weitgehend taub blieb gegen den neuen Klang, der das Land heute ausmacht. Er hat kein Ohr, kein Gespür für die Melodie dieser Bundesrepublik.

In dem Zusammenhang spielt sicher eine Rolle, wer den Präsidenten aus einer großen Schar von Anwärtern ausgewählt hat: Edmund Stoiber, Angela Merkel und Guido Westerwelle sind – vorsichtig ausgedrückt – unmusikalisch, wenn es um den Nachhall von 68 geht. Natürlich verständigten sich die drei Parteichefs nicht vorrangig deshalb auf Horst Köhler, weil er die 68er-Skepsis teilt. Doch so wie nach ihrer Vorstellung der Bundespräsident strukturpolitisch den Gegenreformator zum Reformer im Kanzleramt abgeben soll, so stellt er in seinem Welt- und Gesellschaftsbild den Gegenentwurf zum rot-grünen Duo Schröder/Fischer dar.

Nun ist der Sieg der Ideen von einst schon so weit gediehen, dass auch ein Christdemokrat wie Köhler – vorsichtig von Natur aus, verständnisvoll vom Charakter her – sich einer Respektsbezeugung vor dem Impuls, der von der Straße kam, nicht verweigern will. „Deutschland brauchte die Achtundsechziger nicht, aber sie haben Akzente verstärkt, die positiv sind“, lautet seine diplomatische Positionsbeschreibung im Interview-Band mit Hugo Müller-Vogg. Doch es bleibt ein halb schüchterner, halb skeptischer Gruß aus der Ferne, ein Winken über den Zaun, der bis heute die Gesellschaft teilt, wie zuletzt die Debatte um Joschka Fischers Vergangenheit zeigte. Auf der einen Seite stehen da jene, die in 68 vor allem Anarchie sahen, ein im Grunde überflüssiges Aufrühren von kulturellen, sozialen und politischen Umständen, die sich im Laufe der Zeit auch ohne Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Rufe gewandelt hätten. Für die anderen dagegen begann erst mit jener Revolte die Identifikation mit einem von ihnen bis dahin misstrauisch beäugten Staat. Was sie einbrachten in das sich entwickelnde neue deutsche Selbstverständnis war ein gerütteltes Maß an kritischer Distanz dem eigenen Land gegenüber.

Köhlers Ferne zu dieser Tradition hat Auswirkungen auf seine Rhetorik wie sein Programm, soweit es schon erkennbar ist. Da ist zum einen eine erstaunliche Geschichtslosigkeit zu beobachten: Man muss die NS-Vergangenheit nicht als alleinigen Bezugspunkt für historische Betrachtungen ansehen, aber Köhler vermeidet das Thema bisher so akribisch, wie es seit Richard von Weizsäckers großer Rede für einen Bundespräsidenten nicht mehr denkbar schien. Dabei mag eine Rolle spielen, dass Köhler vom Typ her kein politischer Denker ist. Wo andere Präsidenten sich über das Verhältnis der Weltreligionen den Kopf zerbrachen oder über die Stellung von Parteien und Bürgern im Staat spiegeln Köhlers Äußerungen stets eine Vorliebe fürs Handfeste wider.

Während sich Bundespräsidenten von Rau über Weizsäcker bis Heuss stets auch der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen verpflichtet fühlten, huldigt Köhler einem Reformoptimismus ungewisser Zielrichtung. Darin ähnelt er am ehesten seinem Vorgänger Roman Herzog, der sich noch heute auf Werbeplakaten marktwirtschaftlicher Initiativen wundert, wo denn sein Ruck geblieben sei. Auch Köhler möchte es rucken lassen. Dass er damit nicht mehr Aufmerksamkeit erregt, liegt mehr am politischen Umfeld dieser Tage als an ihm: Wo der Kanzler, die Oppositionsführerin und Guido Westerwelle ohnehin mehr Reformeifer einklagen, fällt ein Präsident mehr oder weniger kaum auf. Vor allem aber greift Köhlers Appell nicht – so wenig wie Herzogs vor ihm –, weil es ihm an der Auseinandersetzung mit möglichen Ursachen des Status quo mangelt. Stattdessen wird seine Rede wolkig, die Moral unverbindlich, das Programm unbestimmt: Hauptsache Reform. Weil Gesellschaftsanalyse nicht Köhlers Stärke ist, bleibt seine Gesellschaftskritik in der Oberflächenbeschreibung hängen. Köhlers Reformimpetus verharrt in Poesiealbum-Politik und Kalenderblatt-Aktivismus: Jeden Tag eine gute Tat.

Das öffentliche Bild Köhlers ist dagegen immer noch bestimmt von seinem Ruf als Weltökonom, als zweiter Helmut Schmidt, der den Deutschen den Weg durch den Dschungel der Globalisierung weist. An diesem Image tragen die Medien mindestens ebenso Verantwortung wie die CDU-Werbestrategen. Tatsächlich stützt sich Köhlers Renommee an diesem Punkt auf zwei berufliche Stationen, bei der Osteuropa-Bank in London und beim Internationalen Währungsfonds in Washington, die er nach allgemeiner Einschätzung ordentlich, aber ohne besondere Erfolge absolviert hat. Und tatsächlich ist der neue Präsident erdverbundener, als es seine Reklamemacher gerne sähen.

Wenn Köhler über seine Vision für die Zukunft spricht, so entwirft er ein Bild der Welt nach schwäbischem Vorbild. So sozial, so behütet, so aufgeräumt wie seine Heimatstadt wünscht er sich die Erde: Die ganze Welt ist Ludwigsburg. Mit den Strategen eines internationalen Raubtierkapitalismus liegt er darum durchaus auch mal über Kreuz und die Dritte Welt kann sich seiner wohlmeinenden Fürsorge sicher sein. Seine Politik ist bemüht um Ausgleich und Harmonie, ginge es nach ihm, sollten die Verhältnisse dem Kleinen, Überschaubaren, Wohlgeordneten zustreben. Wovon also träumt der neue Präsident? Von der Zähmung der kapitalistischen Fliehkräfte? Oder von der Welt als nimmer endender Reihenhaussiedlung – mit Horst Köhler als globalem Kleingärtner? Die Wurzeln seines Denkens sind jedenfalls lokal: Dem Konsensmodell der alten Bundesrepublik, der sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards, gehört seine ganze Sympathie. Entwürfe, die größer sind als der Rahmen des Adenauer-Deutschlands, sucht man bei ihm vergebens.

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