Keine nennenswerte Reaktion

Der Tankerunfall im Hamburger Hafen ist schlimmer als bisher angenommen. Etwa die Hälfte der 500.000 Liter Schwefelsäure ist in die Elbe ausgelaufen – unbemerkt. Wie und wann das Wrack nun geborgen werden soll, ist unklarer denn je

von Alexander Diehl

Anders als zunächst angenommen, ist aus dem gekenterten Gefahrguttanker „Ena 2“ eine erhebliche Menge Schwefelsäure ausgelaufen: Wie die Norddeutsche Affinerie (NA), in deren Auftrag das Schiff fuhr, gestern mitteilte, muss davon ausgegangen werden, dass nach der Havarie am Montagabend mindestens 250.000 Liter Säure ausgelaufen sind. Nach NA-Schätzungen befindet sich weniger als die Hälfte der geladenen 960 Tonnen noch in den Tanks.

Fachleute schließen aus dem merklichen Aufschwimmen des immer noch kieloben im Petroleumhafen liegenden Schiffes, dass noch etwa 430 Tonnen Flüssigkeit an Bord sind. Allerdings keine hochkonzentrierte Säure, sondern vermutlich ein aggressives Säure-Wasser-Gemisch, dessen Konzentration zwischen zehn und 50 Prozent liegen dürfte; dann müssten sogar wenigstens drei Viertel der Ladung in die Elbe gelangt sein.

„Wir wissen“, so NA-Vorstandsvorsitzender Werner Marnette gestern Nachmittag, „dass Schwefelsäure in dieser Verdünnung die Stahlwände der Tanks angreifen kann.“ Infolgedessen dürfte sich in den Tanks ein wasserstoffhaltiges Gasgemisch gebildet haben, so dass Explosionsgefahr besteht. Derzeit, sagte Marnette, „geht von dem Gasgemisch keine Gefahr aus“, die Temperaturmessungen an der Rumpfwand hätten nicht auf „nennenswerte Reaktionen innerhalb der Tanks schließen lassen“.

In der Nacht zum Donnerstag war damit begonnen worden, den Schiffskörper durch Taucher untersuchen zu lassen. Der Rumpf sei bis auf einen großen Riss in der Außenhülle intakt und die Tanks unbeschädigt. Die Taucher seien jetzt damit befasst, die Lüftungsöffnungen zu verschließen. Jetzt wird auf einen weiteren Schwimmkran gewartet, um voraussichtlich am Wochenende das Schiff zu stabilisieren, es dann heben zu können und erst in der Luft wieder in aufrechte Position zu drehen. Dann erst, so Feuerwehrsprecher Peter Braun, sollen die Tanks leer gepumpt werden. Weiterhin, sagte auch sein Kollege Peer Rechenbach, strebe man eine sichere Bergung an, keine möglichst schnelle.

In der Frage weitergehender Folgen versuchte gestern die Umweltbehörde Entwarnung zu geben: Wegen der vergleichsweise geringen Menge Säure im Verhältnis zur Wassermenge und Fließgeschwindigkeit der Elbe habe für den Hauptstrom keine ernst zu nehmende Gefahr bestanden. Auch die NA möchte in eilig durchgeführten Simulationen eine „große Pufferwirkung“ des Elbwassers festgestellt haben. Der Greenpeace-Schifffahrtsexperte Christian Bussau sieht das erwartungsgemäß etwas weniger optimistisch: „Glück gehabt. Man ist hier haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrammt, und niemand hat es so recht bemerkt.“ Wenigstens 250.000 Liter konzentrierte Schwefelsäure seien in die Umwelt gelangt, das Becken des Petroleum-Hafens sei biologisch tot, werde sich aber erholen.

Der Kapitän der „Ena 2“, über dessen Alkoholisierungsgrad zum Zeitpunkt des Unglücks insbesondere die Boulevardmedien in den vergangenen Tagen mehr oder minder Relevantes ans Licht beförderten, sei bereits Ende 2003 während eines Verladevorgangs auf dem NA-Gelände auffällig geworden, wusste Vorstandschef Marnette zu berichten. Damals habe der Mann sich einem Alkoholtest verweigert, und die Transportfirma, für die er arbeitete, sei darüber informiert und sogar abgemahnt worden. „Auch wenn es sich im Rückblick dumm anhört“, so Marnette: „Mehr konnten wir damals nicht tun.“