der stadtentwicklungsplan verkehr (teil 5)
: Ungleiche Mobilitätschancen in Berlin

Das Verkehrssystem bewirkt eine Geschlechterdifferenz im Mobilitätsverhalten

Mit dem Stadtentwicklungsplan Verkehr (StEP) beginne ein „neues Verkehrszeitalter“, kündigte der Senat vollmundig vor einem Jahr an. Auf das Jahrzehnt der Restauration der Verkehrsinfrastruktur soll jetzt ein Jahrzehnt der „intelligenten Nutzung“ folgen. Experten, Planer und Kritiker diskutieren an dieser Stelle, immer freitags, über die Zukunft der Berliner Verkehrspolitik.

Mobilität für alle! Diese Forderung ertönt von Bundesregierung bis hin zum ADAC. Mobilität gilt als hohes und selbstverständliches Gut. Wie also steht es damit in Berlin? Im Zielkatalog des Stadtentwicklungsplans (StEP) Verkehr steht: Alle Einwohner sollten überall verkehrsmittelunabhängig vergleichbare Möglichkeiten haben, mobil zu sein. Je nach Alter, Geschlecht, Lebenslage und Einkommen haben Menschen allerdings unterschiedliche Mobilitäts-Fähigkeiten und -Bedürfnisse. Wie also ist die Realität?

Erstens: Die meisten Ziele liegen in der dichten inneren Stadt, konzentriert auf nur rund einem Viertel der Siedlungsfläche. Drei Viertel der Siedlungsfläche liegen hingegen in den äußeren Stadträumen mit geringen Siedlungsdichten und folglich längeren Wegen. Da Berlin strukturell eine Ansammlung mehrerer Städte ist, sind die Ziele alltäglicher Mobilität hier besser verteilt als in vielen anderen „monozentrisch“ organisierten Städten – mit einer wichtigen Ausnahme: Die räumliche Zuordnung von Wohn- und Arbeitsorten ist hier schlechter als anderswo, da die Arbeitsorte immer noch „westlastig“ verteilt sind. Die Arbeitswege, vor allem für BewohnerInnen östlicher Bezirke, sind deshalb länger als üblich. Der Arbeitsplatzverlust der Nachwendezeit, vor allem in den östlichen Bezirken, ist noch lange nicht ausgeglichen. Aus diesem Grunde fordert der StEP übrigens eine stärker räumlich orientierte Wirtschaftsförderung.

Zweitens: In Berlin verfügen nur etwas mehr als die Hälfte der Haushalte über einen eigenen Pkw, was auch heißt: Weniger als die Hälfte können oder wollen kein Auto benutzen. Da auch in Mehrpersonenhaushalten mit Pkw-Verfügung in der Regel nicht alle das Auto nutzen, bedeutet dies, dass der größere Teil der Berliner Bevölkerung auf die eigenen Beine, das Fahrrad oder den ÖPNV angewiesen ist, wenn er herumkommen möchte. Die Frage ist, wie gut die genannten Verkehrsmittel das Auto ersetzen können. Da in Berlin fast 45 Prozent aller alltäglichen Wege kürzer als oder um die 3 Kilometer lang sind, wird deutlich, dass die Verkehrsmittel Fahrrad und „eigene Beine“ eine sehr große Bedeutung haben (könnten). Der StEP legt daher einen Schwerpunkt auf die Verbesserung der Bedingungen des Fahrradfahrens und des Zufußgehens. Wer dies nicht möchte oder kann oder längere Wege zurücklegen muss, braucht den ÖPNV.

Die Vergleichsanalyse der Qualität des ÖPNV im Verhältnis zum Pkw zeigt zwei sehr interessante Befunde: Zum einen ist die ÖPNV-Fahrt von Tür zu Tür in Berlin generell langsamer als die Zockelei im Auto, zumal wenn Innenstadtziele erreicht werden wollen. Etwas besser haben es die, die in unmittelbarer Nähe eines U- oder S-Bahnhofes wohnen. Die durchschnittliche Geschwindigkeitsdifferenz liegt je nach Strecke zwischen 10 und 15 Minuten. Zum anderen ist die „Geschwindigkeitslücke“ des ÖPNV in den östlichen Bezirken am stärksten ausgeprägt, was vor allem an der unterschiedlichen Infrastruktur-Ausstattung liegt. Für Bewohner der nördlichen, östlichen und südöstlichen Außenbezirke ist die Fahrt mit dem ÖPNV zur Innenstadt häufig fast doppelt so zeitaufwendig wie mit dem Pkw. Wer im Osten wohnt, muss weiter zur Arbeit fahren – und braucht dafür mit dem ÖPNV auch noch länger.

Der StEP sieht daher, trotz knapper Kassen, einige wichtige Ergänzungen in der Schieneninfrastruktur der östlichen Bezirke vor. Auch die Fertigstellung der U 5 hat hier ihr Hauptargument. Sie verbindet die Großsiedlungen besser mit der Stadtmitte.

Ist dann Gleichheit für alle erreicht? Fakt ist, dass Frauen seltener über ein Auto verfügen können oder wollen als Männer. Die räumliche Angebotsstruktur der Stadt und ihr Verkehrssystem bewirken eine „Geschlechterdifferenz“ im Mobilitätsverhalten – zum Nachteil der Frauen. Kinder und Jugendliche können nur nicht motorisierte Verkehrsmittel oder den ÖPNV benutzen. Mobilität ist für sie eine wichtige Voraussetzung für das Erlernen von Selbstständigkeit. Auch sie haben dort Nachteile, wo der ÖPNV lückenhaft ist. Bei Kindern gibt es ein weiteres Problem: Die Dominanz des Kfz-Verkehrs vor allem in der Innenstadt beeinträchtigt ihre Sicherheit. Ähnliches gilt verstärkt für ältere Menschen mit abnehmendem Leistungsvermögen und für Menschen mit Mobilitätsbehinderungen, die dennoch nicht zu Hause rumsitzen wollen.

Der StEP Verkehr zieht aus alldem die Schlussfolgerung, dass die sehr prominente Rolle des Pkw keinesfalls genügt, wenn die Zielstellung lautet: „Mobilität für alle“. Die lässt sich nur erreichen, wenn es gelingt, den ÖPNV und den nicht motorisierten Verkehr attraktiver zu machen, was im Übrigen dann allen Bevölkerungsgruppen zugute kommt.

FRIEDEMANN KUNST

Der Autor ist verantwortlich für Grundsatzangelegenheiten der Verkehrspolitik bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Nächsten Freitag: „Der öffentliche Nahverkehr unter Druck“