Einwanderung: Ein Gesetz für alle Parteien

Bundestag verabschiedet Zuwanderungsgesetz fast einstimmig, aber mit gänzlich unterschiedlichen Interpretationen

BERLIN taz ■ Das erste Lob für das neue Zuwanderungsgesetz kam gestern vom frisch vereidigten Bundespräsidenten. Zu dem nötigen „Mentalitätswechsel“ im Lande gehöre „die Kraft, Lagerdenken in unserer Gesellschaft zu überwinden“ und „konstruktive Kompromisse“ zu finden, sagte Horst Köhler. Hier gebe ihm die Einigung bei der Zuwanderung Anlass zur Hoffnung.

Der Wunsch des neuen Staatsoberhaupts nach Kompromissen war den Volksvertretern Befehl: Am Nachmittag wurde das Zuwanderungsgesetz fast einstimmig vom Bundestag gebilligt. Nur die beiden PDS-Frauen und zwei Abgeordnete der CDU/CSU votierten dagegen. Und niemand zweifelt, dass auch der Bundesrat das Gesetz am kommenden Freitag durchwinkt.

Mit dem „Lagerdenken“ ist es deshalb jedoch noch lange nicht vorbei. Die übergroß scheinende Einigkeit nach jahrelangem Streit wollten die Zuwanderungspolitiker dann doch nicht ganz unkommentiert im Raum stehen lassen. Bis auf Innenminister Otto Schily (SPD), der die von ihm angeleierte Reform als „historische Zäsur“ pries und vor allem Freundlichkeiten mit sämtlichen Beteiligten austauschte, nutzten alle Redner die letzte Debatte über das Gesetz zu einer Schlussabrechnung mit den Kontrahenten.

Die Vertreter der Union wiesen genüsslich darauf hin, dass die Grünen bei den Verhandlungen am Ende nicht mehr am Tisch saßen. „Und ich habe mich vergewissert“, sagte CDU-Verhandlungsführer Peter Müller, „unter dem Tisch waren sie auch nicht“. Der Grüne Volker Beck zitierte im Gegenzug die Kritik der Wirtschaft an der zögerlichen Haltung der Union, die eine schnellere Reform und eine weitere Öffnung des Arbeitsmarkts verhindert habe. „Die Malaise der Union“, sagte Beck, bestehe darin: „Sie haben die globalisierte Welt nicht verstanden!“

Mit dem Verstehen war das gestern überhaupt so eine Sache. Wie soll man das gerade gemeinsam beschlossene Regelwerk begreifen? Als „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“, wie Müller und sein Parteifreund Wolfgang Bosbach finden, als Signal für „Liberalität und Weltoffenheit“, wie der FDP-Verhandlungsführer Max Stadler meint? Oder ist die wichtigste Erkenntnis schon der erste Satz der gestrigen Debatte? „Deutschland ist ein Einwanderungsland“, sagte der Grüne Beck, das werde „mit diesem Gesetz amtlich besiegelt“.

Klar ist nur: Der Kampf um die Deutungshoheit geht auch nach der Verabschiedung weiter. Einig war man sich nur beim Handhochheben und bei der Aussicht für die Zukunft: Über Erfolg oder Misserfolg der Reform könne man erst reden, wenn das Gesetz in der täglichen Praxis bei den Ausländerbehörden und Gerichten umgesetzt werde, betonten CDU/CSU und Grüne – und meinten genau das Gegenteil. LUKAS WALLRAFF

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