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: Der Harmonisierer Horst Köhler verkennt den Nutzen des politischen Streits

Auf „Ruck“ folgte kein „Zuck“. Die leidvolle Erfahrung des Bundespräsidenten Herzog mit seiner „Durch Deutschland muss“- Rede von 1997 hat unseren neuen Bundespräsidenten Köhler nicht abgeschreckt, in seiner Antrittsrede erneut an uns zu rütteln und zu rucken. Diesmal geht es um den Aufbruch in ein zupackendes Land mit neuen Ideen, für das wir alle Verantwortung tragen – und Opfer bringen.

 Alle? Klar, denn auch die „Führungspersönlichkeiten der Wirtschaft“ sollen eine „Kultur der Verantwortung und der Mäßigung vorleben“. Ein solcher Appell wird bestimmt die Mannesmann-Manager zur Einkehr und zu einer großzügigen Spende für die Berliner Stadtmission bewegen. Köhler mahnt, dass motivierte und leistungsbereite Mitarbeiter das größte Kapital ihrer Unternehmen sind.

 Für die abhängig Beschäftigten gelte es, eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung und kollektiver Absicherung zu finden. Hierzu sei ein Mentalitätswandel vonnöten. Köhlers Weltsicht folgend sitzen wir alle in einem Boot namens „Deutschland“ und warten auf die erlösende Brise, statt zum Ruder zu greifen. Die Bootsmetapher zehrt von der Vorstellung zielgerichteter, sinnvoller Kooperation. Wer so denkt, dem ist alles fremd, was scheinbar dysfunktional ins Getriebe eingreift. Dass neue Ideen oft zum gesellschaftlichen Konsens quer liegen, von Minderheiten vorgebracht und als unproduktiv, ja zukunftsvernichtend verdammt werden, erschließt sich Köhler nicht.

 Nach ihm liegt unser Problem in kollektiven psychischen Blockaden. Nur einmal kommt in seiner Antrittsrede das Wörtchen „Interesse“ vor. Da ist es das „ureigenste“ Interesse der Deutschen an der gemeinsamen lichten Zukunft. Die großen gesellschaftlichen Spaltungen, die Köhler diagnostiziert, können mittels des „neuen Aufbruchs“ überwunden werden. Er akzeptiert nicht, dass in einer demokratischen Gesellschaft sich der Streit entgegengesetzter gesellschaftlicher Interessen artikulieren muss, dass es stets scharfer Auseinandersetzungen bedarf, um zu einem – vorübergehenden – sozialen Konsens zu gelangen. Die soziale Marktwirtschaft wird von Köhler als Modell verklärt, das den Deutschen als Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit zugefallen sei. Kräfteverhältnisse werden bei Köhler ausgespart, Mächtige wie Schwache figurieren in einem Gesamtbild, das von der Harmonie gemeinsamer Anstrengung überstrahlt wird.CHRISTIAN SEMLER

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