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: Gänse und Menschen

Dass es echte Kunstwerke schon für Vierjährige gibt – das ist doch mal eine frohe Botschaft. Verglichen mit den betulichen Illustrationen meiner Kindheit mag man kaum glauben, wie raffiniert und witzig Bilderbücher sein können. Die Geschichten selber sind oft recht minimalistisch angelegt, sie leben von der Auslassung, nicht von der Ausschmückung. Das geht dann in etwa so: Ein Mann sah eine Gans, die Gans gefiel ihm, der Mann setzte die Gans in sein Auto und brachte sie nach Hause. Und die Gans? Die Gans war eben eine Gans und benahm sich auch so: Sie guckte nur. Sie guckte, als der Mann sie in den Sessel setzte und mit ihr fernschaute oder als er mit ihr ins Bett ging und ein Buch nahm, um darin zu lesen. „Lesen macht klug“, sagte er zur Gans. Die Gans guckte nur.

So geht das also weiter. Man sieht den strahlenden Mann, dessen lange Nase dem Schnabel der Gans verdächtig ähnlich sieht, und man sieht die Gans mit ihrem gansblöden Blick am Frühstückstisch, beim Spaziergang und im Supermarkt. Natürlich fragt man sich, wer nun eigentlich blöder ist, der Mann oder die Gans? Aber dann wieder ist es eine so freundliche, gansblöde Blödheit, die den Mann auszeichnet, dass das auch wieder egal ist.

In manchen Fällen können Bilder sogar eher plumpe pädagogische Absichten in herzerweichende Geschichten verwandeln. Dieses Kunststück ist Jens Thiele gelungen, im Hauptberuf Professor für Visuelle Medien in Oldenburg (beim Ganstexter handelt es sich übrigens um den Grandseigneur der Augsburger Puppenkiste, Max Kruse, der sich unter anderem das Urmel ausgedacht hat). „Jo im roten Kleid“ ist eine klassische Coming-out-Geschichte, die – wie der Titel ja sagt – von einem Jungen erzählt, der sich ein rotes Kleid anzieht und seine Schönheit im Spiegel bewundert, aber auch gegen finstere Gegner kämpfen muss. Wie viele Bilderbuchkünstler arbeitet Thiele mit mehreren Techniken, er kombiniert Scherenschnitt, Collage und Zeichnung und verbindet sie gezielt mit grafischen Mitteln. So entsteht eine vielschichtige Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, die sich Schritt für Schritt in die verbotene Zone vortastet.

Dann wieder gibt es Geschichten, die zwar nicht als Bilderbücher geboren wurden, aber geradezu nach Bildern schreien. Dazu gehört das Panikmärchen von „Angstmän“, das bereits als Theaterstück und Hörspiel erfolgreich war (Letzteres wurde mit dem Deutschen Kinderhörspielpreis und einem Platz auf der Bestenliste des Preises der Deutschen Schallplattenkritik geehrt) und nun in Buchform vorliegt.

Angstmän, der „größte Schisshase des Universums“, ist auf der Flucht vor Pöbelmän, dem „gemeinsten Superheldenschwein aller Galaxien“. Leider hat er sich verflogen und landet bei Jennifer, die gerade allein zu Hause ist und sich, wie könnte es anders sein, pizzaessenderweise durch alle Fernsehprogramme zappt. „Angstmän“ ist rasant und überzogen wie ein Comic – ein gefundenes Fressen für einen Zeichner, möchte man meinen. Doch Illustrator Karsten Teich hat dieses Potenzial mehr als einmal verschenkt. Wie aus einem schlechten Lehrbuch abgezeichnet etwa wirkt sein Fleischklopfer – ein ganz und gar ungefährliches Küchenutensil. Pöbelmän hat zwar große Zähne, sieht sonst aber eher tapsig als furchterregend aus. Schade, weil hier eine Chance echt vertan wurde. Zum Lesen sei die Geschichte von Hartmut El Kurdi trotzdem ohne Bauchweh empfohlen. ANGELIKA OHLAND

Max Kruse, Sophie Schmid: „Vom Mann und der Gans“. Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2004, 30 Seiten, 13,90 Euro Jens Thiele: „Jo im roten Kleid“. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2004, 32 Seiten, 14,90 Euro Hartmut El Kurdi: „Angstmän. Eine panische Heldengeschichte“, Illustrationen von Karsten Teich. Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2004, 100 Seiten, 10,90 Euro