Jäger des verschrobenen Bildes

Kunst von unten: Der Bremer Waldorfschullehrer Stefan Stolte gilt als „bester Freestyle-Lomograf der Welt“. Derzeit zeigt er seine Foto-Kunst in Peking beim LOMO-Weltkongress. Bei aller Dreistigkeit stets ein freundlicher Entdecker des Beiläufigen

Von Axel Lerner

Ein Ladendieb ist er nicht. Extrem unauffällig schleicht der junge Mann um die Kleiderstangen. Er dringt zu einer Frau vor, die kritisch Hemden und Preisschilder mustert. Nur noch ein Regal trennt sie. Vor seiner Brust hält er einen unscheinbaren schwarzen Fotoapparat. Gründlich betrachtet der schlanke Mittdreißiger billige Damenhüte. Ahnt die Frau, dass sie beobachtet wird? Beiläufig legt ihr Verfolger die Kamera aufs Regal. Ein leises Klicken – das Gesicht ist im Kasten.

Stefan Stolte ist Bilderjäger. Genauer: Lomograf. Und zwar ein ziemlich guter. Eine Jury wählte den Bremer zum besten Freestyle-Lomografen des vergangenen Jahres. Deshalb verbrachte er diese Woche in Peking beim Lomografischen Weltkongress 2004.

Lomografen fotografieren mit einer bestimmten Kamera. Und zwar mit einer der Marke „Leningradskoje Optiko Mechanitschéskoje Objedinjénie“. Kurz: LOMO. Ein Produkt des Sowjet-Kommunismus: Anfang der Achtziger Jahre gab der stellvertretende Verteidigungsminister der UdSSR, General Igor Petrowitsch Kornitzky, den Befehl, eine japanische Kleinbildkamera nachzubauen. 1982 stellte die LOMO-Schmiede ihre erste „Kompakt Automat“ vor. Eine Sucherkamera mit einem 32-mm-Objektiv, variabler Blende und Belichtungsautomatik.

Um die LOMO ranken sich viele Legenden. Russische Spione sollen sie wegen der nachtsichttauglichen Linse sehr geschätzt haben. Aber das stimmt nicht.

Schon damals gab es Kameras, die der Geheimdienst besser gebrauchen konnte. Die LOMO war eine Volkskamera. Jeder verdiente Kommunist sollte sie besitzen können.

Stefan Stoltes Tagesausbeute ist relativ mager. Pro Woche verknipst er zehn Filme.

Heute sind es nur 36 Bilder. Aber einige Leckerbissen sind dabei. Wie die Aufnahme im Klamotten-Discounter: Ein privater Augenblick in einer anonymen Umgebung. Kalt strahlen die Halogenleuchten an der niedrigen Decke. Gelbe Preistafeln verschwimmen im Hintergrund. Vorne die Frau mit den kurzen weißen Locken – in leichter Unschärfe und farblich passend.

Der große Durchbruch gelang der LOMO, als General Kornitzky seine besten Tage hinter sich hatte. 1991 entdeckten zwei Wiener Studenten die Sowjet-Volksknipse wieder. In der kapitalistisch geprägten Pop-Kultur wurde sie schnell zum Trend. Bei allen technischen Vorzügen der LOMO – Farbtreue gehört nicht dazu. Und weil die Bilder eine eigene Ästhetik haben, heißen sie wie die Kamera: Lomografien.

Lomografien sind schrille Zufallsaufnahmen, schnell und unverbindlich wie Privatfernsehen und Musikvideos. Ausgefallene Perspektiven in Naheinstellung. Die LOMO hat zwar einen Sucher, aber es wird nicht durchgeschaut. Nicht das Einzelbild ist entscheidend, sondern die Masse. Gerne erstellen Lomografen ganze Bildwände, die gerade durch die Wiederholung leben. Die Lomografie wird durch „Zehn Goldene Regeln“ bestimmt. Deren letzte: „Kümmere dich nicht um irgendwelche Regeln“.

Im Arbeitszimmer hat Stolte auf der Fensterbank seine Kameras aufgereiht. Die LOMO-Reihe ist mittlerweile auf fünf Modelle angewachsen. Stolte fehlen nur noch zwei: Neben der einfachen „Kompakt Automat“ besitzt er eine „Pop 9“, sowie den „Supersampler“. Bei dem gelangt das Licht über vier Linsen leicht zeitversetzt auf den Film. Fehlen nur noch die „Colorsplash“ und der „Actionsampler“. Mit dem schlichten Klassiker haben die neueren LOMO-Modelle nur noch wenig gemein. Abgesehen von den technischen Spielereien erscheinen sie im bunten Plastikgewand wie Spielzeug-Kameras. Irgendwie sind sie das auch.

Ursprünglich hatte Stefan Stolte – im Zivilleben Lehrer an der Waldorfschule – sich geschworen, Eindrücke ausschließlich im Kopf zu speichern. Er wollte nur „lebendige innere Bilder“ mit sich führen. Bis vor anderthalb Jahren. Da besuchte er Freunde in Berlin – und kaufte in der „Lomographischen Botschaft“ für 150 Euro seine erste „Kompakt Automat“.

LOMOs kauft man nämlich nicht im Fotoladen um die Ecke, sondern in der Botschaft unter www.lomography.de oder bei einem Design-Händlern.

Stolte gab seine E-Mail Adresse an und wurde dadurch Mitglied in der Lomografischen Gesellschaft. Dort fiel er schon bald durch sein großes Engagement auf. Auf dem Rückweg nach Bremen fotografierte er einen Hund und schickte sofort einen Abzug an den lomografischen Botschafter in Berlin. Und Joachim Trapp war klar: „Okay, die Kamera ist in den richtigen Händen.“

Dass Stolte seine anthroposophische Foto-Skepsis über Bord warf, erscheint vielleicht inkonsequent. Doch die Sprünge gehören zum Lebenslauf des jungen Familienvaters. Bevor er Lehrer wurde, diente er beim Bund. Als Panzerfahrer.

Der Ansatz, mit der Kamera auf Kuriositäten-Jagd zu gehen, kam bereits in den Siebzigern auf. In Metropolen wie New York City und London etablierte sich die „Street Photography“. Fotografen zogen mit ihren Spiegelreflex-Kameras los und fingen das Straßenleben ein – erklärtermaßen ohne dokumentarischen Anspruch. Damit sie immer möglichst schnell reagieren können, benutzen sie feste Grundeinstellungen.

Im Gegensatz zu den knallbunten Lomografien sind ihre Bilder meist Schwarz-Weiß und relativ distanziert. Der Betrachter verliert sich eher im Einzelbild, weil er von einem nebensächlichen Detail in den Bann gezogen wird. Bei Lomografien tritt solch ein Punctum seltener auf. Der fotografierte Raum der „Street Photography“ ist offen. Die LOMO-Lifestyler konzentrieren sich bei der Aufnahme auf das Besondere im Alltag und verstärken das Schräge darin durch die verwinkelte Perspektive der Kameralinse.

Wenn Stefan Stolte loszieht, bleibt er bei aller Dreistheit stets freundlich. Seinen Motiven gegenüber hat er einen gewissen Respekt. Als guter Lomograf fragt er natürlich nicht, ob er ein Foto machen darf. Wohlgeformte Bierwampen und schrullige Gesichter sind für ihn ein Fest. Doch ab und an fragt er seine Opfer auch nach ihrer Adresse und schickt ihnen einen Abzug.

Bei seinen SchülerInnen gilt der Lehrer als „entspannt“. Seine morgendliche Ausrüstung: Tasche, Gitarre und, selbstverständlich, die LOMO. Die steckt er oben links in die Jackentasche. Damit die Kamera griffbereit bleibt, lässt Stolte sie während des Unterrichts wandern. Von der Tasche auf den Tisch, vom Tisch in die Hosentasche.

Auf den Auslöser drückt Stolte jedoch nur beim Frühsport und beim Werkunterricht. Obwohl er beim Diktat in der Fünften die LOMO schon in die Hand nimmt, lässt er es lieber bleien. Klar, es habe ihn in den Fingern gejuckt. „Aber das wäre nicht okay gewesen“.