berliner szenen Gesprächsbedarf

Weltschmerz und Wahn

Der kräftige Mann war eigentlich im besten Alter. Er saß an der Bushaltestelle am Moritzplatz, hörte Musik über Kopfhörer und unterhielt sich laut mit sich selbst. Eindringlich philosophierte er über Gott und die Welt: Ich schnappte die Themenbereiche Fußball, allgemeine Anomalien und menschliche Ausscheidungen auf, verstand sonst allerdings wenig, denn es herrschte starker Verkehr. Ein Bus nach dem anderen fuhr, ohne anzuhalten, an der Haltestelle vorbei, dazu zahllose Pkws, deren Insassen der Mann auf Grundlage eines sicherlich ausgeklügelten Systems, je nach offenbar blitzartig wechselnder Laune, mit scherzhaften oder groben Worten bedachte.

Der Mann war durstig. Das erkannte ich daran, dass er aus der Plastiktüte neben sich in regelmäßigen Abständen eine Bierflasche zog, sie relativ zügig leerte und anschließend in die Tüte zurückschob. Auch wirkte der Durstige auf eine grimmige Art fröhlich: Immer wieder ließ er ein bollerndes Lachen vom Stapel, das von einer wütenden Bitterkeit geprägt schien, von weisem Weltschmerz sowie einer heiteren, geradezu beiläufigen und überdies definitiv finalen Resignation – alles zusammen nicht ohne eine gehörige Prise feinster Selbstironie. Letztlich nicht ganz ausschließen mochte ich auch, dass er besoffen und bekloppt war. Ein japanischer Kleinwagen mit drei alten Damen darin, von denen zwei hinten saßen, als wäre die dritte ihre Chauffeurin, musste staubedingt direkt neben dem Mann halten. Der jedoch würdigte sie keines Blicks, sondern verkündete anscheinend zusammenhanglos und mit gespenstischem Vergnügen: „Die werden sterben, die kleinen Jungen und Mädels. Die werden nicht klug – nein, nein, nein …“

ULI HANNEMANN