Besuch beim Tiefseewirbel

Am Ende des Golfstroms zwischen Grönland und Skandinavien: Ein Reisebericht von Bord des Forschungsschiffes Polarstern

Das Nordmeer beeinflusst entscheidend die Lebensbedingungen auf unserer ErdeMit Hilfe von Fossilien können die Forscher vorgeschichtliche Wasserkreisläufe rekonstruieren

von 75° Nord 7° Ost helmke kaufner

Der Haakon Mosby Schlammvulkan ist ein Naturschauspiel, das Forscherherzen höher schlagen lässt. 1.200 Meter tief im Nordmeer gelegen, speit er Schlamm und Methan aus, an dem sich Bakterien laben. Weil er schon seit Zehntausenden von Jahren aktiv ist, lassen sich hier prähistorische Umweltbedingungen rekonstruieren, so dass er regelmäßig von Forschungsschiffen angelaufen wird. Auch die Polarstern, der Eisbrecher des Bremerhavener Alfred-Wegener-Instituts (AWI) macht bei ihrer diesjährigen Nordmeerfahrt hier Station. Seit drei Wochen ist sie unterwegs, um Daten zum Klimawandel zu gewinnen. Zurzeit nähert sie sich auf dem 75. Breitengrad Grönland.

Polargebiete und Meere sind Schlüsselregionen für das Erdklima und haben entscheidende Bedeutung für die Lebensbedingungen auf der Erde. Der Weg des Golfstroms zum Beispiel, der in Nordeuropa für ein mildes Klima sorgt, wird vom Tiefenwasserstrom im Nordatlantik mitbestimmt: Salzhaltiges, kaltes Wasser mit hoher Dichte sinkt nach unten und treibt so den zirkulierenden Meeresstrom an. Ein sinkender Salzgehalt durch Abschmelzen der Polkappen könnte diesen Mechanismus gefährden und den Golfstrom ablenken. Das Klima in Norddeutschland könnte sich dem von Sibirien oder Alaska annähern.

Auf dieser Reise sind Forscher der Universitäten Cambridge, Lancaster und Montreal dabei. Eine Gruppe von Umweltchemikern musste bereits kurz hinter Bremerhaven beginnen, Luft- und Wasserproben zu nehmen. Sie suchen nach organischen Schadstoffen und Quecksilberverbindungen. Die Route in die arktischen Gewässer bietet eine seltene Gelegenheit, deren Spur von den Quellgebieten bis in industrieferne Regionen zu verfolgen.

Für andere Forschergruppen begann der harte Alltag am sechsten Tag mit dem Besuch am Schlammvulkan. Sie suchten „benthische Foraminiferen“ – sensible, einzellige Organismen, deren Zustand Rückschlüsse auf die Umweltbedingungen zulässt. Einige Arten stecken in einer Kalkschale. Durch den Vergleich des Sauerstoff- und Kohlenstoffgehalts im Wasser und den fossilen Kalkschalen längst verendeter Einzeller kommen die Forscher der Erdvergangenheit auf die Spur. Sie können auf diese Weise vorgeschichtliche Wasserkreisläufe und Produktivitätsmuster rekonstruieren.

Am vorigen Samstag bei 15 Grad Ost schwenkte die Polarstern auf den 75. Breitengrad ein Richtung Grönland. Auf der Fahrt entlang dieser Linie stoppt das Schiff alle zehn Seemeilen, um Wasserproben aus verschiedenen Tiefen zu nehmen: von 3.500 Metern bis zum Meeresspiegel. Das dauert zwei Stunden. Danach dampft das Forschungsschiff eine Stunde weiter zum nächsten Probierpunkt. Der so erzeugte Längsschnitt dient dem Erkunden des „Wasserfalls“ aus kaltem, salzhaltigen Wasser, der ein Motor der globalen Ozeanzirkulation ist. Die Fahrt auf dem 75. Längengrad wiederholen die Forscher seit 1994 jährlich.

Ihre Routine wird in der Nähe des Nullmeridians von der Suche nach einem Tiefseewirbel unterbrochen. Diese zufällig entdeckte, 2.500 Meter hohe rotierende Wassersäule mit 20 Kilometern Durchmesser besitzt Bedeutung für den Wasseraustausch in den unteren Schichten des Grönlandbeckens.

Auf der vermuteten Position werfen die Wissenschaftler vom Hubschrauber aus kleine Temperaturfühler ab, deren Daten von einer Messelektronik erfasst werden. Durch die Interpretation dieser Daten gelingt es den erfahrenen Ozeanographen bereits nach wenigen Stunden, den Wirbel zu entdecken und dann mit Sonden zu erkunden.

Der Ritt auf dem Breitengrad wird noch drei weitere Male zum Austausch von „Jojo-Verankerungen“ unterbrochen. Da die Forschungsreisen der Polarstern überwiegend während des arktischen Sommers stattfinden, haben die Tüftler im AWI einen Jojo-Mechanismus entwickelt, der eine Messsonde automatisch das ganze Jahr über alle zwei Tage aus 120 Metern Tiefe auf den Grund sinken lässt und beim Wiederaufsteigen Temperatur und Salzgehalt misst. So erhalten die Wissenschaftler ganzjährig Daten über das vertikale Wasserprofil bis zu einer Tiefe von 3.600 Metern.

Das Prinzip des Sonden-Jojos ist simpel und raffiniert zugleich. Aus einer „Henne“, einem spiralförmig gewickelten Kunststoffschlauch, fällt ein 600 Gramm schweres Blei-„Ei“ in einen Korb über der Messsonde. Durch das Gewicht sinkt die Sonde zu Boden. Ein seitlich angebrachter etwas längerer Stab fährt mit in die Tiefe, trifft aber eher auf Grund und entlässt das Bleigewicht. Es sinkt weiter und landet in einem Auffangnetz, während Sonde und Stab wieder nach oben steigen, wo das nächste „Ei“ in den Korb fällt.

Zum Auswechseln der Verankerung mit den gesammelten Blei-Eiern erhalten Signalempfänger über dem Grundgewicht den Befehl, die Befestigungskette zu lösen. Die gesamte Konstruktion oberhalb des Grundgewichts steigt durch den Auftrieb zur Wasseroberfläche. Den obersten Teil bilden zwei gelbe oder orange Kugelbojen, die zuerst an der Oberfläche auftauchen. Sind sie in Sicht, wird die Jojo-Verankerung geborgen.

Die Polarstern wird versuchen, auf dem 75. Breitengrad so nahe wie möglich an Grönland heranzufahren, um dann in der Framstraße vor Spitzbergen, im so genannten „Hausgarten“ des AWI, die ökologischen Abläufe in der arktischen Tiefsee zu untersuchen. Mehr dazu im zweiten Teil des Reiseberichts.