Der Tourminator setzt ein Zeichen

Lance Armstrong beendet den Tour-Prolog als Zweiter – und 15 Sekunden vor Jan Ullrich. Das ist ein Klassenunterschied

LÜTTICH taz ■ Die Tage vor dem Beginn der Tour de France sind für die Fahrer eine rechte Qual. „Das ist ein furchtbarer Stress“, klagte Lance Armstrong – die medizinischen Kontrollen, die Empfänge, die Pressekonferenzen, ein Termin nach dem anderen –„das steigert den Druck ins Unerträgliche und man möchte irgendwann nur noch aufs Rad“. Die Anspannung staut sich bis zum Bersten – und als Armstrong am Samstagabend in der Lütticher Innenstadt von der Startrampe zu den ersten sechs der rund dreieinhalbtausend Tour-Kilometer rollte, entlud sich diese Anspannung sichtbar: Armstrong entfachte einen siebenminütigen Wirbel mit seinen Beinen und Pedalen und musste sich am Ende nur dem schweizerischen Prolog-Spezialisten Fabian Cancellara geschlagen geben. Seine Konkurrenten, Jan Ullrich, Tyler Hamilton und Iban Mayo, brauchten allesamt mehr als 15 Sekunden länger – auf 6,1 Kilometern ein Klassenunterschied.

Dabei war Ullrich ebenso froh wie sein Widersacher, dass es nach Monaten der Vorbereitung endlich losgegangen war: „Endlich beginnt der Tour-Alltag, endlich kann ich mich beweisen“, sagte er im Ziel. Doch in der unterschiedlichen Prolog-Vorstellung zeigten sich einmal mehr die Stil- und somit die Charakterunterschiede der beiden. Armstrong explodierte. Ullrichs Diesel muss sich erst warm laufen. So waren die beiden auch in die Saison gestartet: der eine mit einem Sieg, der andere gemächlich. Und so fahren sie die Berge hinauf: Der eine attackiert plötzlich, der andere bevorzugt die gleichmäßige Beschleunigung.

Beide Kontrahenten versicherten unter den Linden des Boulevard d’Avroy, dass das Ergebnis des Prologs überhaupt nichts zu bedeuten habe. „Hier werden Sekundenabstände gemacht. Das nächste Mal geht es um Minuten“, sagte Jan Ullrich, und es klang wie die Ankündigung großer Dinge, die er zu vollbringen gedenkt. „Es ist noch ein sehr langes Rennen. Das war nur der Start“, meinte lapidar auch Lance Armstrong.

Doch ganz so bedeutungslos, wie es die beiden Helden darstellen wollten, war der Prolog selbstverständlich nicht. Sonst hätte Lance Armstrong nicht am Abend zuvor seine Mannschaft zusammengerufen, um ihr einzuschärfen, dass er von jedem Einzelnen beim Prolog maximalen Einsatz erwarte. Das Ergebnis: Fünf der neun Postal-Fahrer landeten unter den besten 20. „Das ist doch ein gutes Zeichen“, freute sich Armstrong und dachte dabei an das morgige Mannschaftszeitfahren, die erste entscheidende Prüfung dieser Tour.

Für Armstrong ging es beim Prolog um Selbstbewusstsein – für die Mannschaft und für sich selbst. Und davon hat er reichlich getankt. Während sich der Amerikaner auf dem Standrad nach dem Prolog ausfuhr, wich über Minuten ein leichtes Grinsen nicht von seinem Gesicht, und er bewegte sich wie einer, der sich in seiner Haut wohl fühlt. Die Verunsicherung war weg – jene Verunsicherung, die er über die gesamte Tour des vergangenen Jahres nicht überwunden hatte und die bei der Dauphine-Libere-Rundfahrt vor drei Wochen plötzlich wieder da war, als er beim Bergzeitfahren einen seiner Tour-Herausforderer, Iban Mayo, um zwei Minuten hatte entwischen lassen müssen.

„Ich verstehe, dass die Leute da an mir gezweifelt haben“, sagte er nun in Lüttich. „Ich habe ja selbst an mir gezweifelt.“ Zwar versichert Armstrongs Privattrainer Chris Carmichael, dass sich Armstrong bei der Dauphine bewusst zurückgehalten habe, doch wer Armstrong kennt, weiß, dass er zu sehr Wettkämpfer ist, um eine solch deutliche Schlappe freiwillig in Kauf zu nehmen: „Mit einer Niederlage in dieser Höhe hatte ich nicht gerechnet. Aber ich muss insistieren – das war drei Wochen vor der Tour.“

Jetzt ist es so weit – und Armstrong ist in Topform – auf jeden Fall „deutlich besser als im letzten Jahr“, wie Trainer Carmichael findet. Damals wurde er im Prolog Siebter – hinter Ullrich. Dessen Form bleibt unterdessen ein Rätsel: „Ich bin hier nicht volles Risiko gegangen“, sagte er. Ob er Armstrong wird fordern können, werden erst die nächsten Tagen zeigen. Schon jetzt hat es Ullrich allerdings versäumt, wie Armstrong ein Zeichen zu setzen. Denn Armstrong hat in Lüttich die Tour in die Hand genommen und die Rollen verteilt. Und Ullrich ist da, wo er immer war: in der Rolle des Herausforderers, der unter Zugzwang ist. Armstrong hat es in nur sechs Kilometern geschafft, seinem Widersacher das Messer an die Kehle zu setzen. SEBASTIAN MOLL