Raus aus dem Elysium

Während der Europameisterschaft in Portugal haben deutsche Feuilletonisten wieder einmal versucht, sich dem gesellschaftlichen Phänomen Fußball gedanklich zu nähern. Eine Collage

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Für manchen akademischen Sportsfreund steht fest: Fußball ist nicht nur Fußball, sondern ein „Spiegel der Gesellschaft“, ein „soziales Paralleluniversum“, ein Schlüssel zur Kultur. Solche Zuschreibungen verlieren angesichts des Zustands der deutschen Nationalelf jede Harmlosigkeit. In einer Gesellschaft, die auch nur von fern der deutschen Innenverteidigung ähnelte, möchte schließlich nicht jeder leben.

Heute muss sich Deutschland nicht nur im Fußball, sondern auch in Sachen Ökonomie, Bildung, Sozialstaat ans Verlieren, Absteigen, an eine neue Mittelmäßigkeit gewöhnen. An das Wunder von Bern zu glauben, heißt, dass man das Unmögliche schaffen kann.

Jetzt ist wieder von einem „Wunder“ deutsch-griechischer Präzisionsarbeit die Rede, das Otto Rehhagel am Donnerstagabend in Porto zustande gebracht haben soll. Oder hat die Malaise in der Heimat so zugenommen, dass inzwischen nur noch ein Wunder und kein Ruck mehr die Deutschen von ihrer griesgrämigen Skepsis kurieren kann? Denn die große Sehnsucht nach einem Wunder hat sehr viel mit der Gegenwart im Krisenland zu tun.

„Jetzt ist also“, sagte Reinhold Beckmann, „die Reformdiskussion auch im deutschen Fußball da.“ Und da wusste der Mensch vor dem Bildschirm, dass er auch aus diesem Elysium vertrieben wird: aus dem Fußballparadies, dem wohl letzten Ort, an dem man sich noch sicher fühlte vor der würgenden, alles verschlingenden Reformdebatte. Was das Thema „Schmerz“ angeht, so ist niemals Schöneres gesagt worden als von Johanna: „Der schwere Panzer wird zum Flügelkleide / Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude.“

Wir stehen in letzter Zeit ziemlich traurig da in Europa. In einer Welt voller Trübsal, Hoffnungslosigkeit und politischer Korrektheit öffnet der Fußball auch die Tür zu der absolut humanen Gerechtigkeit (ein Tor ist ein Tor) und zur Möglichkeit für absolute Triumphe (die es bekanntlich nicht mehr gibt). In diesem Fall, im Europa des Jahres 2004, wird der Fußball den Zyklus der Trübsinnigkeit und der ersten Seiten (unserer Zeitungen), die sich so oft mit grauen, banalen Figuren befassen, durchbrechen. Die Welt ist gefährlich; ein bisschen Fußball in Portugal kann uns da helfen, optimistischer zu sein. Portugal ist ein kleines, leidenschaftliches Land. Leidenschaftlich, ultranationalistisch und mittelalterlich: Was sonst soll man von einem Kontinent erwarten, in dem die Mehrheit der Bevölkerung einem Sport anhängt, der den Amerikanern nichts bedeutet? Außer vielleicht beim Frauenfußball, aber der zählt nicht.

Dabei könnten Frauen dem Volkssport etwas längst Verlorenes zurückgeben. Das technische und taktische Raffinement der Profi-Männer erschließt sich heute kaum noch jemandem. Mögen Männer argwöhnen, Frauen-Fußball sei wie Dauerzeitlupe – die Entschleunigung hat ihr Gutes: Das Spiel wird wieder lesbar.

Das Hin und Her des Balls lässt sich nicht sinnhaft und schon gar nicht moralisch oder soziologisch verrechnen. Die Strecken vom eigenen zum fremden Tor sind lang, viele Spieler stehen im Weg, die strategischen Möglichkeiten sind ungezählt, die Situation für den einzelnen Spieler ist zumeist viel unübersichtlicher als in anderen vergleichbaren Ballspielen, und der Untergrund ist uneben. Vor allem aber: Die Füße sind nicht dazu gemacht, präzise Bewegungen auszuführen.

Das führt zurück zur Frage, ob die angenehmeren sozialen Einstellungen auch den erfolgreicheren Fußball hervorbringen. Ja, Frankreich, wer zöge den Familienvater Zidane nicht dem von seiner Gattin geschaffenen Amüsierbuben Beckham als Nachbarn vor? Ja, Portugal, wer fände nicht das Versprechen eines eleganten Passes tiefer als acht Griechen, die alles weghauen, was sich dem Elfmeterraum nähert?

Wer hat nun Recht? Wir haben leider keine gescheite Antwort und begnügen uns definitiv mit dem Reiz der begriffslosen Anschauung der Fußballübertragung.

Grün ist alle Theorie, aber diese Begriffe haben ihren Sitz im Leben: Der Computer gewöhnt uns an den gerasterten Raum. Für den perspektivischen Raum kann man immer noch ins Kino gehen. Die Live-Übertragungen im Fernsehen liefern die Zentralperspektive. Für 2006 fehlt jetzt nur noch eine verlegerische Überraschung: ein unveröffentlichtes Manuskript aus dem Nachlass von Niklas Luhman: „Der Fußball der Gesellschaft“.

Wir bedanken uns bei den Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, der Wochenzeitung Die Zeit, der Frankfurter Rundschau, bei der Welt und der Berliner Zeitung