Mit Symbolen spielt man nicht

Die Galerie Marina Sandmann zeigt in ihrer Jubiläumsausstellung Meisterwerke der „Zweiten Moderne“ – dissidentische Sowjetkunst

VON BARBARA KERNECK

Zwanzig Jahre hat Sergej Volokhov sein großes Kunstwerk nicht mehr gesehen. „Ziemlich interessant“ findet er es jetzt. Das Tableau „Russland“ hängt in der Galerie Sandmann wie ein vielflügeliger Altar. Im Zentrum krümmt sich eine Gebärende mit unheimlich aufgeblähtem Bauch. Den Umriss des größten Landes der Erde zeichnet ihre Unterlage aus Zeitungsschnippseln nach, bedruckt mit politischen und religiösen Texten. Neben dem Kopf der Frau steht die Zeile, die sich immer anbietet, wenn man über russische Verhältnisse spricht: „Wer unter euch ohne Sünde ist …“ 24 metallgerahmte Täfelchen rundum zeigen und ironisieren Gegenstände und Ikonen der russischen Kultur und des sowjetischen Lebens. „Ich dachte nicht, dass das je ausgestellt wird“, sagt Volokhov. „Für so etwas konnte man nach Sibirien kommen.“

Von 20 russischen KünstlerInnen stammen die Werke in der Ausstellung „Das Tauwetter und die Zeit danach. Teil I, Moskauer Maler 1958–1986“, mit der Marina Sandmann das zwanzigjährige Bestehen ihrer Galerie für russische Kunst feiert. Betrieben hat sie sie immer im Team mit ihrem deutschen Ehemann Fritz, anfangs in und um Hamburg, seit 2001 in eigenen Räumen in der Linienstraße in Berlin. Volokhov zeigte ihr sein Tableau 1989 in seiner Moskauer Wohnung, wo er es versteckte. Die Kunstliebhaberin und Sammlerin war gerade dabei, eine in Moskau erfolgreiche Riesenausstellung zeitgenössischer Künstler in vermindertem Umfang (nur noch 300 Bilder) von Moskau auf das Schloss Wotersen bei Hamburg zu transportieren. Sie schmuggelte die einzelnen Tafeln von Volokhovs Werk unter das Gesamtkonvolut und erinnert sich heute: „Das war so eine kurze Periode unter Gorbatschow, wo im allgemeinen Chaos keine Ausfuhrzensur durch das Kultusministerium mehr existierte.“

Zu Marina und Fritz Sandmanns erster selbst organisierter Ausstellung, „Labyrinth“, pilgerten 12.000 BesucherInnen aus ganz Deutschland im Winter 1989 auf das flache Land. Auf der im Frühjahr 1988 in Moskau vorangegangenen Schau gleichen Namens hatte revolutionäre Aufbruchstimmung geherrscht. Erstmals stellten sich außerhalb der offiziellen Kulturverbände gegründete Künstlergruppen vor. In ihren Manifesten wucherte das Wort „Zukunft“.

Dieser Elan ist noch zu spüren, auch wenn die Bilder der Tauwetter-Ausstellung noch früher entstanden. Die Ausstellungen und Ankäufe, mit denen die Sandemanns jene Epoche der russischen bildenden Kunst ausgelotet haben, die man heute die „Zweite Moderne“ nennt, reichen bis zu dem Beginn dieser Periode, Ende der 50er-Jahre, zurück. Deren berühmteste Vertreter sind dabei, wenn die Galerie heute wieder eine überblickartige Gesamtschau wagt.

Da ist zum Beispiel der „Metaphysiker“ Vladimir Weisberg, der auf seinen Bildern kaum sichtbare Silhouetten aus verschieden transparenten Weißtönen erschafft. Oder Mikhail Chernishov, lange Zeit einziger Vertreter der sogenannten 0-Kunst. Anfang der 60er-Jahre rahmte er als Siebzehnjähriger sowjetische Tapeten ein und stellte sie in Wohnungen aus, wo sie sich von ihrem Hintergrund nicht unterschieden. Zwei Bilder von Lydia Masterkowa zeigen, wie sie zur gleichen Zeit einen ganz eigenen nichtfigurativen und abstrakten Stil entwickelte. Dem Konzeptionalisten Eduard Gorochowski verdanken wir eine Siebdruckserie, auf der ein Frauenkopf zum vertikalen Strich schrumpft und dann aus einem horizontalen Bindestrich von Bild zu Bild wieder aufersteht.

Last, not least sind da die Erfinder der Soz-Art, Komar und Melamid, Meister des Makabren, vertreten gleich mit drei Arbeiten. Auf einem Gemälde liegen eine Brille und eine Kassette auf einem Plattengehweg. Der Deckel des Lackkästchens ist offen, innen befinden sich durchsichtige Scheine. Entwertete Banknoten oder Staatsanleihen?

Sergej Volokhov lebt inzwischen in Belgien. Das Tableau „Russland“ dürfte wohl auch heute nicht aus Russland ausgeführt werden. Die Regierung hat die Ausfuhr zu Ausstellungszwecken von Kunstwerken erotischen Inhalts oder solchen, die mit nationalen oder religiösen Symbolen spielen, in den vergangenen beiden Jahren systematisch verhindert und verfolgt.

Galerie Marina Sandmann, Linienstraße 139–140, Di.–Fr. 14–19 Uhr, bis 28. März