: 30 Minuten am Vatertag
Ein Mann vergewaltigt eine 14-Jährige in der Fußgängerzone einer Kleinstadt – alle schauen weg, niemand hilft ihr. Am Dienstag beginnt der Prozess
heide taz ■ Die Anklage der Öffentlichkeit richtet sich ebenso gegen den Täter wie auch gegen die PassantInnen, die ihm zugeschaut haben sollen. Wenn am Dienstag vor dem Jugendschöffengericht gegen den 19-jährigen Vitali S. verhandelt wird, der am Himmelfahrtstag in der Fußgängerzone der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Heide (Kreis Dithmarschen) eine 14-Jährige vergewaltigt haben soll, werden im Blickpunkt gleichermaßen acht PassantInnen stehen, die dem Mädchen trotz dessen Aufforderung Hilfe versagt haben sollen. Ob sie sich dafür eines Tages selbst vor einem Gericht verantworten müssen, steht noch nicht fest: Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen unterlassener Hilfeleistung dauern an.
Für den Prozess vor dem Amtsgericht im benachbarten Meldorf ist bisher nur ein Verhandlungstag angesetzt. Vitali S. ist wegen sexueller Nötigung angeklagt. Dass er das Mädchen an jenem Abend gegen 22.30 Uhr in der Fußgängerzone bedrängte, in einem Ladeneingang schließlich zu Boden drängte und mit dem Finger vergewaltigte, steht fest – nicht aber, ob er wegen des Sexualdeliktes verurteilt werden kann. Denn Vitali S. hatte rund 2,5 Promille Alkohol im Blut. Laut dem Sprecher der Itzehoer Staatsanwaltschaft, Friedrich Wieduwilt, ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass der 19-Jährige nur wegen „Vollrausches“ verurteilt werden kann.
Gegenüber der Polizei hat sich Vitali S. bisher nicht zur Tat geäußert. Trotzdem ist seine Version bekannt – aus den Medien, denen gegenüber er erzählte, was sich aus seiner Sicht am Abend des Vatertages in der Fußgängerzone abgespielt hat. Demnach habe er das Mädchen am Nachmittag im Zug kennen gelernt und mit ihr den restlichen Tag verbracht. Als er sie küssen wollte, „ist sie nicht weggelaufen“, leugnete er die Gewalt. Auch habe er sie nicht bedrängen wollen, sondern sei betrunken auf sie gestürzt.
Das Mädchen selbst hingegen hat klar eine Vergewaltigung beschrieben: Sie habe an einem Fahrradständer gerade ihr Rad losschließen wollen, als der ihr unbekannte Vitali S. sie von hinten umfasst und sogleich bedrängt habe. Er habe sie einige Meter die Fußgängerzone entlanggezerrt, sie zu Boden geworfen und mit Gewalt berührt.
Zu Hilfe sei ihr niemand gekommen, obwohl sie mehrere PassantInnen angesprochen habe. Mindestens 30 Minuten hat es nach Polizeiangaben gedauert, bis dann doch jemand zum Telefon griff und die Polizei benachrichtigte – nachdem bereits der Vater des Mädchens herbeigeeilt war, den die 14-Jährige während der Tat über ihr Handy alarmieren konnte.
Acht Ermittlungsverfahren gegen untätige PassantInnen hat die zuständige Staatsanwaltschaft in Itzehoe eingeleitet. Die Verfahren richten sich allesamt gegen Männer. Namentlich nicht bekannt ist bisher eine Frau in roter Jacke, die als Hauptzeugin gilt: Sie soll von dem Mädchen direkt angesprochen worden und weitergeeilt sein. Ins Visier geraten sind zudem drei bis vier Männer, die die Vergewaltigung von einem benachbarten Balkon aus beobachtet und mit Sprüchen sogar kommentiert haben sollen. Zu Hilfe kamen sie dem Mädchen nicht.
Die Schwierigkeit liegt für die Staatsanwaltschaft im Nachweis, dass die Beschuldigten die Vergewaltigung erkannt und trotzdem die Hilfe verweigert hatten. Vier ZeugInnen hatten vor der Polizei bekundet, keine Vergewaltigung, sondern nur ein „Gerangel“ zwischen dem betrunkenen Mann und dem Mädchen beobachtet zu haben. Zwei 18-jährige Frauen gingen davon aus, bei den am Boden liegenden Personen habe es sich um ein Paar gehandelt: „Beide lagen auf dem Rücken wie ein Pärchen, das betrunken ist.“
Die acht Männer, gegen die Ermittlungen laufen, sind zunächst nicht als Zeugen zum Prozess geladen. Bisher seien nur diejenigen benannt worden, von denen das Gericht laut Staatsanwaltschaftssprecher Wieduwilt glaubt, dass sie „zur Überführung des Täters ausreichen“. Die acht Männer gehören offenbar nicht dazu – womöglich, weil vor Gericht nicht aussagen muss, wer sich dadurch selbst strafrechtlich belasten könnte.
elke spanner