Braunschweig macht Ernst

Zwar fehlt noch mehr als ein Pfennig zum Glück, aber Welfen-Town denkt trotzdem unverdrossen an Musik, Musik, Musik. Auf Initiative von Orchestermanager Martin Weller sollen – der Kasseler Documenta vergleichbare – Festspiele für Neutöner entstehen. Auch, sum die Kulturhauptstadtbewerbung zu pushen

aus Braunschweig Benno Schirrmeister

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Die zeitgenössische E-Musik, die Neue Musik, hat’s schwer. Das weiß auch Karl Heinz Wahren, der Bundesvorsitzende des deutschen Komponistenverbandes. Deshalb begrüßt er auch die Braunschweiger Pläne, der Kasseler Dokumenta für Bildende Kunst vergleichbare Festspiele zu initiieren. „Sinnvoll ist es sicher“, so der Schüler von Karl Amadeus Hartmann, „dieses Projekt zu diskutieren und seine Verwirklichung anzustreben“. Allerdings, betont er, könne „das Modell Dokumenta nur sehr bedingt als Pate herhalten.“ Denn die Bildende Kunst verfüge „über eine ungleich stärkere gesellschaftliche Bindung und allgemeine Akzeptanz, als die Neue Musik“.

Euphorie hört sich anders an. Finden lässt die sich allerdings in den lokalen Medien: Als am 16. Juli der Oberbürgermeister Gert Hoffmann die Idee bekannt gegeben hatte, kommentierte die „Braunschweiger Zeitung“ , „das biedere Braunschweig“ und seine Region bedürfe genau dieser Art „positiver Verrücktheit“. Um, im Hinblick auf die Kulturhauptstadt-Bewerbung, gleich noch mehr „hochfliegende Projekte“ und „Utopien“ einzufordern. Das „Aufhorchen“ und „Staunen“, dass sich der Leitartikler von jenen versprach, ist allerdings bislang recht dünn ausgefallen. In den überregionalen Feuilletons reichte es gerade zu einer Notiz in den Meldungsspalten. Immerhin, von einer verbindlicheren Reaktion kann Braunschweigs Kulturdezernent dann doch berichten. Sie kam direkt aus Kassel und bestand im diskreten Hinweis darauf, dass der Name Dokumenta geschützt sei. Die Konkurrentin im europäischen Kulturhauptstadt-Rennen solle sich doch bitte um einen anderen Arbeitstitel bemühen.

Höfliche Skepsis und kleinliche Nörgelei auf der einen, Überschwang auf der anderen Seite: Das ist verständlich. Denn Beachtung verdient es sehr wohl, wenn sich eine Stadtverwaltung offiziell hinter ein Musikprojekt stellt, das ehrgeiziger kaum sein könnte – gerade in Zeiten des allgemeinen Rückbaus von Kultur-Einrichtungen. Die Zweifel haben jedoch auch ihre Berechtigung. Denn Greifbares gibt es bislang nur außerordentlich wenig, bis auf den Arbeitstitel – und dessen muss man sich ja entledigen.

So spricht der Initiator des Vorhabens davon, dass man sich Gedanken darüber gemacht habe, „welche Unterschiede zur Bildenden Kunst zu beachten“ seien. „Die“, so Martin Weller, seines Zeichens Erster Trompeter und Manager des Staatsorchesters, werde „eher statisch präsentiert, obwohl da ja auch Performances vorkommen.“ Wie in der Kunst, so gebe es auch in der Neuen Musik etliche Formen, die auf Endpunkte hin ausgerichtet seien „bis zur völligen Klanglosigkeit“. Die Kunst habe jedoch eher Wege darüber hinaus entdeckt, „die Musik muss die oft noch finden.“ Gerade deshalb sei eine institutionalisierte Übersicht sinnvoll. Er glaube „ohne Wenn und Aber, dass man das hinbekommt“. Man wolle mit den Festspielen „in die Stadt hinaus gehen“. Und als Hauptziel benennt Weller, „Neuer Musik zu mehr Wahrnehmung zu verhelfen“. Von vornherein ausschließen wolle er aber auch die U-Musik nicht.

Vielleicht müssen Ideen im Vagen entstehen. Zum tragfähigen Konzept ist es jedoch noch ein weiter Weg. Und Verhandlungen gab es bislang offenbar auch nur innerhalb der Stadtgrenzen: Der Musikreferent habe, heißt es aus dem niedersächsischen Kulturministerium, „von den Plänen erst aus der Presse erfahren.“ Man stehe dem Projekt „offen und mit Wohlwollen“ gegenüber. Es sei Ernst zu nehmen: „Herr Weller ist hier im Hause kein Unbekannter.“ Schließlich sitze er mit am Runden Tisch für Neue Musik, den das Kulturministerium eingerichtet habe. Über das Großprojekt für Braunschweig sei aber bislang noch gar nicht geredet worden. Folglich könne auch über mögliche Finanz-Hilfen nichts gesagt werden.

Das bestätigt auch der Kulturdezernent: Die Idee sei jedoch „faszinierend genug, um mit der ernsthaften Arbeit daran zu beginnen“. So schnell wie möglich, das heißt ab Ende August sollen „Symposien starten“, so Laczny weiter. Deren Aufgabe: Ein klares Profil für die angestrebten Festspiele zu finden.

Dringlich geboten ist das auch, weil es bereits eine erkleckliche Zahl Festivals für Neue Musik gibt, die gleichermaßen um Zuwendungen der öffentlichen Hand und die Gunst eines recht spärlichen Publikums buhlen: Über 15 sind es allein in Deutschland, außer im August findet jeden Monat zumindest eines statt. Manche gehen allerdings an Geldmangel ein, wie die Biennale für Neue Musik in Hannover. Die hätte turnusgemäß im vergangenen Juni auf dem Programm stehen müssen.

Allerdings, hebt Laczny hervor, habe keines der Festivals den Anspruch, der ganzen „zersplitterten Szene Neuer Musik eine Heimstatt“ zu geben. Für die Verwirklichung baue man auf die Unterstützung beispielweise der Bundeskulturstiftung, insbesondere aber durch das Land, „wenn es denn Braunschweig als den Bewerber Niedersachsens benennt.“ Darum konkurriert man noch mit Osnabrück. „Wenn dann ein Konzept fürs Festival auf dem Tisch liegt, können wir auch Verbündete suchen.“