Der Sportheimkehrer

Der Fußball kommt nach Hause – ausgemergelt, abgerissen, unrasiert

Ein wolkenverhangener, schwüler Tag im August. An der Haustür des Westdeutschen Rundfunks in Köln klingelt es. Ein junger „Sportschau“-Reporter in kurzen Hosen und mit sauber gezogenem Scheitel eilt durch den Flur und öffnet die Tür. Im Halbdunkel des defekten Minutenlichts steht einer – ausgemergelt, abgezehrt, unrasiert: Der Fußball kommt nach Hause.

„Mutti, Mutti, da steht ein fremder Mann vor der Tür und behauptet, er ist Vati!“ In der Küche lässt Heribert Faßbender den Kochlöffel fallen. Geistesgegenwärtig bindet er sich die Schürze ab und läuft in den Flur. Erschrocken schlägt er sich die Hände vor den Mösenbart. Das soll unser Fußball sein? Dürr und klapprig. Ein stoppeliges Elend. Das Leder abgewetzt. Abgemagert bis auf die Knochen. Tausend Gedanken schießen Mutti Faßbender durch den Kopf: Beinahe hätten wir ihn für tot erklärt – mit dem Tennis ist jetzt wohl Schluss – noch ein Esser, noch weniger Marken. Doch dann siegt die Freude und Faßbender wirft sich dem Fußball an den Hals. „Fußi“, knutscht er die marode Kugel ab. Als hätten sie nur auf sein Signal gewartet, stürzen die Reporter-Racker hinzu und umklammern glücklich den Sportheimkehrer. „Fußi, versprich mir, dass du uns nie wieder verlässt“, haucht Faßbender dem Fußball ins Ohr.

Nun siegt die Tatkraft. Mutti wischt sich mit einem Zipfel ihres Kleides die Tränen aus den Augen, bindet die Schürze wieder um und schickt Gerd, den langen Schlacks, zum Schlachter. Das muss gefeiert werden. Dafür gibt sie gern die letzten Marken. Heute kocht sie Vatis Lieblingsessen: Kotelett mit Kartoffeln und Mehlschwitze. Jetzt kommen auch Vati die Tränen. Das hat er schon elf Jahre nicht mehr gegessen. Im „ran“-Gulag gab es immer nur Borschtsch. Kohlsuppe ohne Kohl, und dann noch kalt. Morgens, mittags, abends.

„Au fein, Vati! Erzähl endlich, wie es war“, krähen die Gören, doch da greift Mutti durch: Erst mal runter mit den stinkenden Sat.1-Lumpen, und ab damit ins Feuer! Und dann die Grasstoppeln von der gegerbten Haut gekratzt! Vati rollt auch schon flink ins Bad. Kaum die erste Scheibe Brot heruntergeschlungen, und prompt geht’s auf den Topf. Er kann eben nichts drinbehalten. „Das ist alles pschyschisch“, klärt der altkluge Reinhold seine kleinen Geschwister auf: „Vati hat nämlich die Weltmeisterschaft verloren“, raunt er verschwörerisch in die Runde. „Bist du still!“, faucht Mutti. „Schluss mit den alten Geschichten, mit Führer und NSDFB und und und … Das liegt hinter uns!“, befiehlt sie streng, aber gerecht. Dafür sei später noch immer Zeit. „Wenn ich mal 68 bin“, murmelt Reinhold und freut sich dann aber auch, als Vati glatt gemacht am Küchentisch Platz nimmt und loslegt mit den wilden Geschichten aus dem „ran“-Gulag: über den Lagerkommandanten Jörg Wontorrowitsch, der jeden Samstag mit seiner flachen Stalinwitzorgel die Reihen der Zuschauer lichtete. Über den berüchtigten Kommissar Fasel-Hansch, der seine schiefen Sprachbilder so lange aufhängte, bis Kamerad Zuhörer erschöpft zusammenbrach.

Mit einem Mal aber wird Vati ganz still: „Elf harte Jahre … Jetzt fangen wir nochmal bei null an!“ Spricht’s – und lächelt selbstvergessen. Dann reicht er Mutti und dem Buben zu seiner Rechten die knochigen Finger. Alle halten sich nun fest an den Händen. Eine La-Ola-Welle des Glücks läuft durch die große „Sportschau“-Familie. Der Kreis hat sich geschlossen. MICHAEL RINGEL