Im urbanen Dschungel

Blühende Landschaften in der Bronx? Von der neuen Lust auf das echte New York. Der Tourismus füllt die Kassen der Städte und lässt nicht nur die Eventkultur boomen. Ein Streifzug durch New York

von JOHANNES NOVY

London oder Paris, Berlin oder New York, es ist ein weltweites Phänomen: Innerhalb kurzer Zeit ist Tourismus zu einem der bedeutendsten städtischen Wirtschaftszweige aufgestiegen, und nie war der Einfluss anhaltender Besuchermassen auf die Veränderung urbaner Räume sichtbarer als heute. Neue glitzernde Architekturen suchen es dem Guggenheim Museum in Bilbao nachzutun, das der nordspanischen Metropole zu einem unerwarteten Besucherandrang verhalf. Urbane Zentren – gereinigt von sichtbaren Spuren städtischer Armut – erstrahlen in neuem Glanz, und gerade im Sommer verwandeln sich Innenstädte durch eine stetig steigende Zahl von Festivals und Events in Spielplätze der Freizeitgesellschaft.

Die Stadt auf dem Weg zum Vergnügungspark? Stadtforscher wie der Berliner Soziologe Hartmut Häußermann konstatieren bereits seit Jahren eine Transformation städtischer Räume in Konsum- und Erlebnislandschaften, und insbesondere in den USA gilt dieser Prozess als weit fortgeschritten.

Zwar wäre es falsch, den umfassenden Wandel amerikanischer Innenstädte ausschließlich auf den Boom städtischen Tourismus zurückzuführen, vielmehr erfuhr die Lust aufs Urbane gerade durch die Revitalisierung zahlreicher Städte im Zuge des Wirtschaftswachstums der Neunzigerjahre einen wesentlichen Antrieb; eine entscheidende Rolle wird Städtetourismus jedoch im Hinblick auf die Kommerzialisierung lokaler Kultur zuteil: Städtetourismus, so argumentieren Kritiker, ersetzt zunehmend städtische Authentizität durch leicht konsumierbare Imitationen ihrer selbst.

In New York, auch nach dem 11. September mit über 30 Millionen Besuchern jährlich eine der Tourismusmetropolen schlechthin, gilt der Times Square als Paradebeispiel für den durch Tourismus angekurbelten Wandel des Städtischen. Nach Jahrzehnten des Niedergangs von privaten Investoren wie dem Disneykonzern aufwendig saniert, ist die Gegend um Times Square und 42nd Street in Midtown Manhattan heute eine der größten Attraktionen des Big Apple. Die ehemals verruchte Atmosphäre, Striplokale und Spielsalons, sind – wie eine riesige Filiale des Spielwarenkonzerns Toys’r’us verdeutlicht – einem familienfreundlichen Ambiente gewichen. Privates Sicherheitspersonal, Videoüberwachung und ständig patrouillierende Putzkolonnen sorgen für Sicherheit und Zufriedenheit der Besucher, die neuerdings zu tausenden die Musicaltheater, Kinos, Restaurants und Geschäfte bevölkern.

Aber sind es wirklich die sterilen Kunstwelten wie der Times Square, die Touristen in die Ferne schweifen lassen? Die amerikanische Stadtforscherin Susan Fainstein warnt vor Verallgemeinerungen. Touristen, sagt sie, werden von verschiedenen Motiven bei der Wahl ihres Reiseziels geleitet, haben unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Zwar erfreuen sich künstliche Erlebniswelten à la Times Square ungebrochener Beliebtheit, ebenso sei aber auch ein gegenläufiger Trend zu erkennen, der sich in einem gestiegenen Interesse Reisender an Orten abseits touristischer Trampelpfade äußere. „Real places“, ungeschönte und authentische Orte, stehen laut der Professorin der Columbia-Universität bei Städtetouristen hoch im Kurs, eine Beobachtung, die durch jüngste Entwicklungen in New York bestätigt wird.

So ist Harlem, das schwarze Mekka der USA, zu einem der meistbesuchten Stadtteile New Yorks aufgestiegen, und in den verbliebenen jüdischen Geschäften der Lower East Side geben sich Touristen geradezu die Klinke in die Hand. Selbst die Bronx, Symbol städtischen Niedergangs und immer noch eine der ärmsten Gegenden der USA, hofft seit kurzem von der neuen Lust aufs Authentische zu profitieren.

Zwanzig Subway-Minuten von der Glitzerwelt des Times Square entfernt können Touristen seit Ende letzten Jahres kulturelle Attraktionen der Bronx mit einem Bus ansteuern. Galerien und Kulturzentren organisieren für die monatlich stattfindende „Cultural Trolley Tour“ Lesungen, Livemusik oder Performances und ziehen auch Besucher an, die freimütig bekennen, dass sie sich ohne die Tour wohl nie in die ehemalige Terra incognita der Bronx gewagt hätten. In den Augen mancher eine „Safari der Wohlhabenden durch den urbanen Dschungel der Armen und Marginalisierten“, ist der Event nur einer von zahlreichen Ansätzen, der Bronx zu einem Imagewechsel zu verhelfen. Will man der Stigmatisierung ein Ende bereiten, muss man – davon sind die Veranstalter des Bronx Council of the Arts überzeugt –, Touristen wie New Yorker dazu bewegen, die Bronx mit eigenen Augen zu sehen.

Das ist auch das Ziel von Orlando Rodriguez, der mit dem Nachbarschaftszentrum „The Point“ Führungen durch die südliche Bronx anbietet. Bei seinen Zügen durch die mehrheitlich puerto-ricanische Nachbarschaft lädt der in der Bronx aufgewachsene Rodriguez seine Gäste ein, ihre eigenen Erfahrungen mit einem Stadtteil zu machen, der in der Vergangenheit wie kaum ein anderer unter Armut, Kriminalität und der daraus resultierenden Stigmatisierung zu leiden hatte. Nicht Kriminalitätsstatistiken, sondern die Musikalität der Bronx, lokale Mambo- und HipHop-Künstler sowie deren Wirkungsstätten stehen im Mittelpunkt der thematischen Führungen.

Die Casa Amadeo, ein jahrezehntealtes Plattengeschäft, ist eine lokale Institution der Bronx und feste Anlaufstelle der „From Mambo to HipHop Tour“. Der fast siebzigjährige Besitzer freut sich über die ungewöhnlichen Gäste, die Rodriguez jede Woche in seinen Laden führt, und scheint zu jedem zum Verkauf angebotenen Tonträger eine Geschichte parat zu haben. Der Besuch bei Amadeo ist beispielhaft für Rodriguez’ Ziel, ortsansässigen Händlern zu mehr Umsatz und Künstlern zu einem größeren Publikum zu verhelfen. BEST, eine Initiative, die mit nicht profitorientierten Tourismusstrategien benachteiligten Quartieren auf die Beine helfen möchte, hat seine Führungen auch deshalb in das Pilotprojekt „FirstHand New York“ aufgenommen. Experten sagen dem so genannten Community-Tourismus ein großes Wachstumspotenzial voraus, ein Trend, der Skeptiker schon heute veranlasst, vor dem kulturellen Ausverkauf der Bronx zu warnen. Zweifellos wird Tourismus allein die Bronx nicht in blühende Landschaften verwandeln, sondern kann nur in Verbindung mit anderen Maßnahmen zu einer bewohnerorientierten, ökonomischen und sozialen Revitalisierung beitragen.

Informationen: Business Enterprises for Sustainable Travel (BEST): www.sustai nabletravel.orgBronx Council of the Arts: www.bronxarts.org Als weiterführende Lektüre: Lily M. Hoffman, Susan S. Fainstein and Dennis R. Judd: „Cities and Visitors“. Erscheint im Herbst 2003 bei Blackwell