Voigt greift zum zweiten Mal nach Gelb

Der Berliner Radprofi blüht unter Bjarne Riis wieder auf. Morgen will er mit CSC das Mannschaftszeitfahren gewinnen

CHARLEROI taz ■ Wenn Jens Voigt auf dem Fahrrad sitzt, dann sieht man, dass Radsport harte Arbeit ist. Voigt ist kein Ästhet wie seine Kollege Ullrich, der selbst ein Zeitfahren mit 50 Stundenkilometern im Schnitt leicht aussehen lässt. Während Ullrich beim Prolog der Tour in Lüttich in perfekter Pose auf seinem Liegelenker ruhte, rutschten Voigts Hüfte und Oberkörper unruhig hin und her und die Anstrengung zeichnete eine Grimasse auf Voigts Gesicht. Allerdings war Voigt dann auch sechs Sekunden schneller als Ullrich.

Der Prolog hatte für Jens Voigt aber auch eine ganz andere Bedeutung als für Ullrich. Der verkündete hernach gelassen, dass die Tour noch lang sei – und er noch drei Wochen Gelegenheit habe, das gelbe Trikot zu erobern. Voigt hingegen will das Maillot jaune so schnell wie möglich, für ihn zählte schon auf den ersten sechs Kilometern jede Sekunde. Mit einer guten Leistung im Prolog, so Voigts Kalkül, kann er sich nahe genug an die Führung der Gesamtwertung schieben, um sie morgen beim Mannschaftszeitfahren zu übernehmen. Sein Team, die Formation CSC unter Führung des Tour-Siegers von 1996, Bjarne Riis, gilt als Geheimfavorit für die 64,5 Kilometer lange Prüfung gegen die Uhr. Und da Voigt im Prolog der schnellste CSC-Mann war, hätte er bei einem CSC-Sieg am Mittwoch gute Aussichten, das Trikot für ein paar Tage zu tragen.

Nachdem Ende letzten Jahres Tyler Hamilton die Mannschaft von Riis verlassen hat, fehlt dem Team ein echter Kandidat für das Podium auf den Champs-Élysées. Doch diese Situation ist Riis gewohnt. Es können eben nur drei der 21 Mannschaften einen Fahrer aufs Podest bringen, die anderen müssen ihrem Sponsor auf andere Art nützlich sein. Und das hat Riis seit der Teamgründung vor drei Jahren verstanden wie kein anderer: 2001 und 2002 mit dem Gewinn des Bergtrikots und den umjubelten Solo-Attacken durch den französischen Publikumsliebling Laurent Jalabert, im vergangenen Jahr durch die spektakuläre Fahrt des verletzten Hamilton sowie durch Tagessiege der Fahrer Carlos Sastre und Jakob Piil. In diesem Jahr hat sich Riis das Mannschaftszeitfahren ausgesucht.

Wenn Bjarne Riis sich ein Ziel steckt, dann erreicht er es auch. Diesen Ruf hat der Däne, seit er 1996 die Tour-Regentschaft Miguel Indurains beendete. Nun ist es Riis’ Spezialität, begabte Fahrer zu holen und sie – nach seinem eigenen Vorbild – zur vollen Entfaltung zu bringen. Wie mit Jalabert und Hamilton, und wie mit Jörg Jaksche in diesem Frühjahr, der unter Riis die Fernfahrt Paris–Nizza gewann. „Bjarne hat die beinahe magische Fähigkeit, aus Fahrern alles herauszuholen, was sie können“, sagt Voigt. Auch der Berliner scheint unter Riis wieder aufzublühen.

2001 hatte Voigt mit Crédit Agricole schon einmal das Mannschaftszeitfahren gewonnen und dann, dank seiner unermüdlichen Lust am Angriff, für einen Tag das gelbe Trikot getragen. Nach zwei erfolglosen Jahren bei der Tour scheint Voigt nun bei Riis wieder dort zu stehen, wo er schon 2001 stand. Seine Angriffslust bewies er schon auf der ersten Etappe von Lüttich nach Charleroi, als er 116 Kilometer lang eine Fluchtgruppe anführte und sich unterwegs dank der Bonifikationen ein Stück näher an das gelbe Trikot schob. Und dank der Konzentration von Riis auf das Mannschaftszeitfahren, hat er nun die realistische Chance, es am Mittwoch zum zweiten Mal überzustreifen.

Um die Prüfung am Mittwoch zu gewinnen, hat Riis weit mehr getan als andere Mannschaften. Das Team T-Mobile hat das Fischschwarm-artige Dahingleiten dreimal geübt, die Mannschaft von Lance Armstrong vielleicht ein Dutzend Mal. Jens Voigt hingegen sagt, er könne überhaupt nicht mehr zählen, wie oft Bjarne Riis das schwierige Formationsfahren trainieren ließ: „Schon im Januar im Trainingslager hieß es plötzlich aus dem Mannschaftswagen, wir sollten uns in Neunergruppen aufteilen und einreihen, und dann ging’s los.“

Riis’ Mannschaft ist eine Ansammlung von Stars: Der Tour-Dritte von 1998, Bobby Julich, ist darunter, auch der frühere Weltcup-Sieger Michele Bartoli. Und so diente das unablässige Training des Mannschaftszeitfahrens auch dazu, die Egoismen zu zähmen. In der Hackordnung des Rudels genießen Fahrer wie Bartoli einen Sonderstatus: „Ich würde mich nie trauen, ihn anzuschnauzen, wenn’s beim Zeitfahren nicht so richtig läuft“, sagt etwa Jens Voigt. Das besorgt Bjarne Riis mit der Autorität des Tour-Siegers vom Mannschaftsfahrzeug aus. Und so wird am Mittwoch auch der große Bartoli dem Deutschen dabei helfen, zum zweiten Mal in seiner Laufbahn nach dem gelben Hemd zu greifen. SEBASTIAN MOLL