lost in lusitanien
: Niederlage für den Supermann

MATTI LIESKE über einen antizipierten Siegesrausch, eine wilde Reitereskorte und zwei merkwürdig leblose Superstars

„Der Traum stirbt an einem Eckball“, klagt der Correio da Manhã und fasst die Stimmung nach dem verlorenen EM-Finale traurig zusammen: „Wir litten, wir glaubten, jetzt weinen wir.“ Público hingegen stellt trotzig den positiven Aspekt in den Vordergrund und titelt: „Es hat sich gelohnt!“. Damit liegt die Zeitung eher auf der Linie von Portugals Trainer Felipe Scolari, der von „guten Siegern und großartigen Verlierern“ sprach. Den Grund für die Niederlage sah der Brasilianer keineswegs in den Defiziten seines Teams, sondern in den „Tugenden der Griechen“. Insgesamt zog Scolari eine positive Turnierbilanz. „Wir sind Vize-Europameister“, sagte er, „wir werden genauso weiter arbeiten und sehen uns bei der WM in zwei Jahren wieder.“

Ganz so idyllisch mag man das fatale Ende des Turniers in Portugal, wo nur noch griechische Gesänge die nächtliche Ruhe beeinträchtigten, nicht sehen, und auch Scolari ist seit Sonntag nicht mehr der Supermann, zu dem er nach dem Halbfinalsieg über Holland stilisiert worden war. Trotz der Niederlage gegen Griechenland im Eröffnungsspiel der EM hatte niemand ernsthaft geglaubt, dass der Außenseiter dem Gastgeber noch einmal ein Schnippchen schlagen könnte. „Halleluja“, hatte die Sportzeitung A Bola in riesigen Lettern frohlockt, als die Griechen die gefürchteten Tschechen aus dem Weg geräumt hatten. Die Stimmung im Lande steigerte sich vor dem Finale zügig in einen antizipierten Siegesrausch. Jeder Portugiese schien inzwischen eines der Trikots des Teams zu besitzen und es am Sonntag auch zu tragen. Nicht nur die Innenstadt Lissabons und die Gegend am Stadion war ein einziges rot-grünes Gewimmel, auch die Gegend um den Fanpark am Tejo-Ufer mit ihren vielen Bars und Restaurants war schon lange vor dem Anpfiff ein Meer von menschlichen Leibern, über dem der unablässige Ruf „Portugal, olé“ schwebte.

Zu einem besonderen Ritual war schon bei den letzten Partien in Lissabon die Anreise der Spieler aus ihrem Quartier im 30 Kilometer entfernten Alcochete auf der anderen Seite des Tejo gewesen. Die Fahrt des Mannschaftsbusses wurde live in voller Länge in Fernsehen und Radio übertragen, am Sonntag verwandelte sich die Strecke in einen Wallfahrtsort. An einer Stelle begleitete eine wilde Horde von Reitern auf galoppierenden Pferden den Bus, und es sah aus, als würden Indianer einen Überfall verüben. Auf der langen Vasco-da-Gama-Brücke folgten Scharen von Schnellbooten den Spielern, auf der Stadtautobahn dann unzählige Motorräder, und die Ränder der Strecke säumten wie bei einer Tour-de-France-Etappe Tausende von jubelnden Menschen. Und mit jedem Kilometer wurde die Last größer, die auf den Schultern der Spieler lag. Wer bis dahin noch geglaubt hatte, der Einzug ins Endspiel genüge als Erfolg bei dieser EM, wie es nach dem Halbfinale geheißen hatte, der sah sich jetzt eines Besseren belehrt. Dies war ein Land, das den Titel, und nichts weniger, erwartete.

Eine Kritik, die gestern an den Spielern laut wurde, war, dass sie das Match wie ein ganz normales behandelt hätten und nicht wie das wichtigste ihrer Karriere. Möglicherweise eine Reaktion auf den immensen Druck, der an ihren Nerven zerrte. Nie konnten sie das Spiel so forcieren wie gegen England und Holland, vor allem Figo und Ronaldo wirkten leblos im Vergleich zu ihren Darbietungen in den vorigen Matches. Insgesamt begingen die Portugiesen gegen die Griechen denselben Fehler wie die Franzosen: sie verschliefen die erste Halbzeit und riskierten zu wenig. Letzteres geht klar auf die Kappe des vorsichtigen Felipe Scolari. „Ich würde mir wünschen, dass die Portugiesen mit jener Formation beginnen, die sie am Ende auf dem Feld haben“, hatte Johan Cruyff schon zuvor gerügt. Also mit zwei Defensivleuten weniger, zwei Offensivkräften mehr. Gegen die spärlichen Attacken der Griechen eine Viererkette zu stellen, war die pure Verschwendung von Ressourcen, und warum Scolari den form- und nervenschwachen Stürmer Pauleta immer wieder aufstellte, weiß ohnehin nur er selbst. Ein Angriff mit Nuno Gomes und Helder Postiga als Spitzen und Anspielstationen in Strafraumnähe hätte die Griechen jedenfalls vor mehr Probleme gestellt und Räume für die dahinter agierenden Figo, Deco und Ronaldo öffnen können.

Die Hilflosigkeit der Portugiesen lässt sich auch an der Statistik ablesen. Keine andere Mannschaft bei diesem Turnier hat so oft aufs Tor geschossen, keine andere aber auch so hochprozentig vorbei. Von 17 Schüssen im Finale kamen nur fünf aufs Tor. Noch jämmerlicher die Flankenbilanz. Meist aus dem Mittelfeld geschlagen, waren diese ein gefundenes Fressen für die langen Griechen, trotzdem versuchten es die Portugiesen immer wieder. Von 40 Flanken kamen ganze fünf an. Sechs von 17 lautete dagegen die Bilanz der Griechen. Erst mit Rui Costa wurde das portugiesische Spiel gefährlicher, doch seine Einwechslung in der 60. Minute kam zu spät. Das Gegentor kurz zuvor hatte Hektik und Übereifer ins Spiel einkehren lassen, was besonders deutlich wurde, als Costa sich glänzend zur Grundlinie durchspielte, den Ball mustergültig zum Elfmeterpunkt zurücklegte, die drei Angreifer Pauleta, Figo und Ronaldo aber geschlossen am Fünfmeterraum versammelt waren.

?Otto Rehhagel hat bewiesen, dass er definitiv ein besserer Trainer ist als der bereits vergötterte Scolari?, lautete das harsche Urteil der Zeitung Público über den eigenen Coach. Kratzen wird das den sturköpfigen Brasilianer wenig, und los werden ihn die Portugiesen sobald auch nicht. Nach dem Halbfinale hatte Scolari seinen Vertrag bis zur WM verlängert, was mächtig bejubelt wurde im Lande. Aber da glaubte Portugal ja auch noch fest an den Titel. MATTI LIESKE.