Im Grunde logisch

Griechenland besiegt im Finale von Lissabon auch Portugal und wird tatsächlich Fußball-Europameister – und das, obwohl eigentlich gar keine Fußballer in der Mannschaft stehen

„Wenn du kein Tor kassierst, hast du eine gute Chance, das Spiel zu gewinnen“

AUS LISSABON MATTI LIESKE

Otto Rehhagel war ganz bescheiden in der Stunde seines größten Triumphs. „Ach, es hat schon immer Sensationen gegeben im Fußball“, sprach der Grieche aller Griechen mit sokratischer Gelassenheit, erinnerte an das 1:0 der Nordkoreaner 1966 bei der WM gegen Italien und mochte partout nichts Besonderes an dem Gewinn der Europameisterschaft entdecken durch ein Land, das im Sport bisher lediglich durch die Erfindung des Marathonlaufes aufgefallen war. Außer natürlich, dass dieses 1:0 gegen Portugal im Finale „weit über die sportlichen Begriffe hinaus“ gehe, weil es die notorisch dem Zwist zugeneigten Griechen vereint habe. „Alle Menschen werden Brüder, wie es in dem Lied so schön heißt.“

Bruder Otto untertrieb diesmal gewaltig. Nordkorea kam zwar ins Viertelfinale, verlor dort aber umgehend – gegen Portugal – und blieb eine hübsche exotische Episode. Griechenlands EM-Gewinn hingegen lässt sich allenfalls mit jenem Ereignis vergleichen, das exakt 50 Jahre zuvor in Bern stattgefunden hatte, doch auch da war Deutschland zwar als krasser Außenseiter ins Turnier gegangen, galt aber immerhin als große Fußballnation und keinesfalls als sportlicher Zwerg, der noch nie ein Spiel bei einem wichtigen Turnier gewonnen hatte. Griechenlands Erfolg wurde erst durch den modernen Fußball des 21. Jahrhunderts möglich, der sich in eine Richtung entwickelt, die vor einigen Jahren der Trainer Ralf Rangnick vorwegnahm, als er behauptete, aus zehn Leichtathleten jederzeit ein passables Fußballteam formen zu können. Die Sensation von Lissabon ist aber auch die perfekte Bestätigung jener These, die Rudi Völler beharrlich den „Gurus“ entgegenschleuderte, die ihm das Teamchef-Leben so schwer gemacht hatten: Es gibt keine Kleinen mehr.

Die Griechen sind zwar keine Leichtathleten, aber eigentlich auch keine Fußballer. Zwar stehen die Besten von ihnen bei englischen, italienischen, spanischen oder deutschen Klubs unter Vertrag, doch zur Ausübung ihrer Tätigkeit kommen sie selten. Die meiste Zeit schmoren sie auf der Reservebank. Gewisse Attribute aus der leichtathletischen Zunft besitzen sie durchaus. Lasst lange Kerle um mich sein, lautet Rehhagels Devise, der es eher mit dem alten Fritz als dem der Dickleibigkeit verfallenen Julius Caesar hält, die Durchschnittsgröße der Mannschaft beträgt 1,87 m. Und affenschnell sind sie alle, vor allem die Abwehrspieler. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass Laufarbeit, Zweikampfverhalten, Kopfballstärke inzwischen die wesentlichen Elemente des Fußballs sind, nicht etwa fußballerische Brillanz und Kreativität, dann haben ihn die Griechen geliefert. Die Aufgabe des Trainers ist es, die richtigen Teile für sein Puzzle auszuwählen und „den richtigen Mann an den richtigen Platz“ zu stellen, wie es Rehhagel ausdrückt. Und die Eliminierung aller störenden Faktoren. Er habe erreicht, dass jeder nur das tue, was er könne, während zuvor alle machten, was sie wollten, sagt der Trainer. Dafür hat er sich erlaubt, zwei der besten griechischen Fußballer, Zikos und Georgatos, gar nicht mitzunehmen, einen anderen, Nikolaidis, kaum einzusetzen, vor allem nachdem dieser beim Match gegen Frankreich deutliches Missfallen über seine Auswechslung demonstriert hatte. Bei Otto Rehhagel ist so etwas die Lizenz zum Bankdrücken.

Die Frage, die sich umgehend erhob, als Kapitän Theodoros Zagorakis im Estádio da Luz den EM-Pokal in den vom Feuerwerk erhellten Himmel reckte, war: Dürfen die das eigentlich? Den Cup dem portugiesischen Volk einfach aus den freudig ausgestreckten Händen reißen? Und das mittels einer so feigen, defensivbetonten Taktik? Und was würde es für den Fußball in Europa bedeuten, wenn alle Trainer sehen, dass man mit einer eisernen Abwehr alles gewinnen kann. Für Portugals Trainer Felipe Scolari war das kein Thema. „Es ist die Aufgabe der offensiveren Teams, diese Abwehr zu knacken“, sagte der Brasilianer und sprach von einer „wunderbaren Arbeit“, welche die Griechen geleistet hätten. „Ich glaube nicht, dass man sich an uns als ein langweiliges Team erinnert“, meinte Nikolaos Dabizas von Leicester City, der im Endspiel nicht zum Einsatz kam. „Wir sind sicher nicht das attraktivste Team, aber dafür sehr effizient.“

Tatsächlich ist der griechische Ottonaccio trotz Manndeckung und Libero gar nicht so altmodisch, wie er manchmal scheint. Mit seinen schnellen und aufmerksamen Abwehrspielern, den großartigen, auch offensivstarken Verteidigern Seitaridis und Fyssas, sowie dem raschen Aufrücken und Umschalten auf Angriff bei Ballgewinn erinnert das griechische Spiel an das System, welches etwa Juventus Turin pflegt. Gegen Frankreich waren die Griechen sogar eine Halbzeit lang das angriffsfreudigere Team, und die ballgewandten Tschechen und Portugiesen hatten auch andere Mannschaften wie England, Dänemark oder Holland weit in die Abwehr zurückgedrängt. Da trafen sie irgendwann, gegen Griechenland gelang ihnen das nicht. „Wenn du kein Tor kassierst, hast du eine gute Chance, das Spiel zu gewinnen“, weiß Dabizas und führt die Siegesserie gegen die Favoriten dieser EM darauf zurück, dass niemand Fehler gemacht hat. „Wenn man eine Kette mit elf Gliedern hat, und eines ist schwach, dann bricht die Kette. Bei uns gab es kein schwaches Glied.“

Am Ende waren die Griechen der zwar sensationelle, aber im Grunde logische Gewinner dieser EM. Die Defensive hatte bei allen Teams, außer Tschechien und Bulgarien, absoluten Vorrang, die Griechen spielten sie so, wie die meisten anderen gern gespielt hätten. Im Angriff besaßen sie dank des Bremer Reservisten Charisteas und der unermüdlichen Antreiber Zagorakis und Karagounis die Fähigkeit, die nötigen Tore zu schießen, und das erforderliche Glück war in den wenigen brenzligen Situationen, die sie zuließen, auch auf ihrer Seite. „In Freude und Trauer übertreibt der Grieche gern“, erwies sich Otto Rehhagel einmal mehr als profunder Kenner der Mentalität seines Gastlandes und variierte damit einen seiner vielen Standardsprüche: „Wenn die Griechen zwei Spiele verlieren, stürzen sie sich ins Meer, wenn sie zwei gewinnen, glauben sie, sie werden Weltmeister.“ Nach den Tagen von Portugal klingt das wie eine Drohung.