Auf unsicherem Grund

Stecken geblieben in Vergangenheiten: Im Streit zwischen Castorf und den Ruhrfestspielen liegt noch viel unausgesprochener Schutt. Die Vermeidung der offenen Auseinandersetzung aber kostet zu viel

Die Bezüge zur Gegenwart erreichen schlicht nicht das Ohr des Zuschauers

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ausrutschen. Das Gleichgewicht verlieren. In den Dreck fallen. Frank Castorf liebt es, den aufrechten Gang aus den Pantinen zu hauen und das Lächerliche an seine Stelle zu setzen. Wenige Schritte reichen, die Erwartungshaltung an die Charaktere auf der Bühne zu unterlaufen. Und der Künstler, der vorführt, wie er übt, hinzufallen und sich dem Gelächter auszusetzen, baut gleich noch eine Lektion über die Käuflichkeit der Kunst ein. Seht, sind wir nicht alle Huren des Kapitals?

Wasserflächen, Eisflächen, Bananenschalen, Kartoffelsalat sah man schon auf Castorfs Bühne, um diese Gefährdung vorzuführen. Aber irgendwann wird die demonstrative Bereitschaft zum Risiko auch zur manierierten Marotte.

In „Gier nach Gold“ ist es Schlamm, der unter Westernstiefeln und Stöckelschuhen glitscht. Es ist der Schlamm einer unbefestigten Stadt im Wilden Westen, der den Fetisch Gold um so mystischer funkeln lässt. „Gier nach Gold“ war Castorfs Eröffnungsstück für die Ruhrfestspiele in Recklinghausen, als deren Leiter er bis 2007 bestellt war. Nun ist er schon nach den ersten sechs Festivalwochen gekündigt, will aber nicht gehen. Zum Ende der Spielzeit lief das Stück gerade noch einmal in der Volksbühne Berlin. Da ging man hin, um die Eskalation des Konflikts zwischen Castorf und seinen Auftraggebern, vor allem dem DGB und der Stadt Recklinghausen, zu verstehen und Argumente gegen den empörenden Akt der Absetzung zu finden. Und da wurde man dann von Minute zu Minute mutloser, weil so vieles versucht wurde und so wenig gelungen ist.

Der Stoff aus der frühen Zeit des Kapitalismus sollte als Parabel dienen für die Verteilungskämpfe der Gegenwart. Das Gold, das alle Beziehungen umdreht, Liebe und Freundschaften verändert, Gewalt und schließlich Morde nach sich zieht, gibt es gleich zweimal. Einmal als im Lotto gewonnene Dollars und einmal als bloße Chimäre. Doch der Plot verliert sich ständig im Gezeter der Figuren, die sich von Anfang an keifend gegenüberstehen. Die Bezüge zur Gegenwart, etwa zu den politisch gewollten Prozessen der Entsolidarisierung, dem neuen Kult um den Geiz und den gesellschaftlichen Ausschluss der Arbeitslosen, bleiben kryptisch. Sie werden zwar berührt in einigen ideologiekritischen Einschüben, die aber im allgemeinen Lärm schlicht schwer das Ohr des Zuschauers erreichen.

Das mag an der Berliner Volksbühne, wo Castorf sich über Jahre ein Publikum aufgebaut und seine inhaltliche Problematik vorangetrieben hat, funktionieren; für ein Castorf ungewohntes Publikum bleibt, der trashig ausgestellten Sinnlichkeit zum Trotz, vieles schwer greifbar.

Nun wird die Kündigung von Castorf nicht mit der Qualität seiner Inszenierung begründet, die auch nur eine von 30 Produktionen des Festivals war. Als Künstler lobten Ingrid Sehrbrock, DGB-Vorstandsmitglied, und Wolfgang Pantförder, Oberbürgermeister von Recklinghausen, Castorf auf ihrer Pressekonferenz ausdrücklich, bevor sie zu den Kündigungsgründen, die geringe Auslastung und mangelnde Vermittlung, kamen. Doch man wird das Gefühl nicht los, dass dies ein Scheinmanöver, ein Ausweichen der Diskussion über Kunst ist. Genau dieser Verdacht macht auch Castorf sauer. Dass die Vorbehalte gegen seine inhaltlichen Konzepte nicht ausgesprochen werden, sondern sich hinter Zahlen verstecken.

Castorf fühlt sich durch die Reaktionsweise des Aufsichtsrates an Anklam erinnert, an seine Abschiebung in die Theaterprovinz in der DDR in den Achtzigerjahren, weil er dort schon einmal sein Recht zu inszenieren vor dem Arbeitsgericht einklagen musste. Damals machte sich der Verdacht staatsfeindlicher Subversion am Unverständlichen und Selbstbezüglichen fest. Der Konflikt entzündete sich an einer Othello-Inszenierung, die wenig von der Tragödie übrig ließ und viel von der depressiven Befindlichkeit der Intellektuellenenklaven vermittelte. Der Journalist Robin Detje hat in seinem Buch „Castorf. Provokation aus Prinzip“ die damalige Polarisierung des Publikums beschrieben: „In Anklam kippt die Stimmung. Die Castorf-Premieren werden langsam zum Ziel bierseliger Cliquenausflüge aus der Hauptstadt. […] In der kleinen Stadt braut sich einiges an Bitterkeit zusammen. Man fühlt sich nicht gemeint, schlimmer noch: Das Territorium fühlt sich ernsthaft verschaukelt.“

Dieses Beleidigtsein, weil man sich nicht gemeint fühlt, das drücken die rückläufigen Besucherzahlen der Ruhrfestspiele wahrscheinlich tatsächlich aus. Dabei wollte Castorf diesmal, anders als damals in Anklam, für das Publikum vor Ort agieren und glaubte sein Programm maßgeschneidert für die Probleme der Region. Nur dass die Region sich wohl nicht so von außen erklärt wissen wollte.

Doch die Reaktionen von Recklinghausen mit Anklam zu vergleichen, ist auch eine nostalgische Verklärung der Pose der Widerständigkeit. Zu stolz heftet sich Castorf seine Risikobereitschaft als Ehrennadel an. Sich damals der Lesbarkeit des Theatralischen und der Kontrolle der Interpretationen zu entziehen, war ein wichtiger Schritt bei der Etablierung von alternativen Diskursebenen. Doch diese Polarisierung zwischen der Kunst als System der Subversion und dem Staat als System der Kontrolle trägt heute nicht mehr. Nicht nur, weil Castorf zu einem der erfolgreichsten Regisseure geworden ist, sondern auch weil die inhaltliche Kontrolle der Kunst unwichtig neben ihrem Marktwert geworden ist. Castorf wurde als großer Name und Markenzeichen für ein Publikumsfestival eingekauft, nicht als der Held der Subversion für Avantgarde.

Diesem Problem stellt sich bisher weder der Aufsichtsrat noch Castorf selbst. Die Ruhrfestspiele sind nicht erst unter seiner Leitung unter die Räder gekommen. Zu Recht wies Castorf darauf hin, dass die bessere Bilanz der Vorjahre kommerziellen Programmen geschuldet war. Das Publikum für Kultur ist im dichten Netz der Städte des Ruhrgebiets hart umkämpft. Kultur dient in der ehemaligen Industrieregion der Profilierung der Standorte und als wichtiges Produkt auf dem Weg in die Umwandlung zur Dienstleistungsgesellschaft. In diesem Konkurrenzkampf waren die Ruhrfestspiele schon länger auf die Seite der Verlierer gerutscht, und nicht zuletzt deshalb hat man Castorf für einen Neustart gesucht. Sein Anfang war nicht gelungen; dass man ihm keine Zeit lässt, aus den Fehlern zu lernen und schrittweise Land zu gewinnen, ist aber ist auch nicht besser.