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Archiv-Artikel

Man hat sich die Meinung gesagt

Der Kanzler war erregt und die Gewerkschaftsbosse bedröppelt. Inhaltlich ist beim SPD-Gewerkschaftsrat nicht viel herumgekommen. Neuer Streit droht

AUS BERLIN ULRIKE HERRMANN

Der SPD-Gewerkschaftsrat glich einer Gruppentherapie. Man hat sich am Montagabend mal mit Verve die Meinung gesagt. Von einer „deutlichen Aussprache“ war hinterher die Rede, mit „heftigen Ausdrücken“. Der Kanzler soll „erregt“ gewesen sein über die Dauerkritik der Gewerkschaftsbosse und habe in einem Wutausbruch „zurückgekeult“. Konkrete Ergebnisse gab es nicht, wenn man davon absieht, dass die Gewerkschaftler versprachen, das neue linke Wahlbündnis nicht zu unterstützen.

SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles kann es nicht schlimm finden, dass man „ohne konkrete Einzelpunkte“ auseinander ging. „Für Aktionismus war überhaupt nicht die Stimmung.“ Stattdessen habe man sich immerhin auf die „gemeinsame Analyse“ geeinigt, dass die „Strukturanpassungskrise“ sowohl die SPD-Regierung wie die Gewerkschaften schwächt. Nur ein Stichwort zur desolaten Lage: Die Mitglieder laufen den Sozialdemokraten genauso davon wie den Gewerkschaften.

Außerdem hat man ja einen gemeinsamen Feind – die Union. Dass es unter einer Kanzlerin Angela Merkel noch furchtbarer wäre, darüber konnte sich der SPD-Gewerkschaftsrat dann doch einigen. Am Ende hatte man sich vorläufig versöhnt: Man ist sich einig, uneinig zu sein. Jetzt lautet die Formel, dass ein „intensiver Dialog“ zu führen sei. Am 5. Oktober ist der nächste SPD-Gewerkschaftsrat und bis dahin soll eine Arbeitsgruppe unter SPD-Generalsekretär Klaus Uwe Benneter weitere Vorschläge für die „Einkommen im unteren Bereich“ präsentieren. Diese Arbeitsgruppe ist keineswegs neu, sondern hat schon mehrmals getagt. Ihr gehören auch der NRW-Wirtschaftsminister Harald Schartau, IG-Metall-Vize Berthold Huber und DGB-Vorstand Heinz Putzhammer an. Ergebnisse sind noch nicht nach draußen gedrungen, dafür melden sich andere zu Wort. So hat Ver.di-Chef Frank Bsirske eine Liste der Themen präsentiert, die er für geeignet hält, um das soziale Profil von Rot-Grün zu schärfen: „Mindestlohn, kommunale Investitionen, Bürgerversicherung, Mindestbesteuerung von Unternehmensgewinnen, höhere Steuern auf große Erbschaften und mehr Ausgaben für Bildung.“

Nicht zufällig steht das Thema Mindestlohn ganz vorn. Schon seit Monaten wird darüber hinter den Regierungskulissen und in den Gewerkschaften verhandelt. Denn immer mehr Unternehmen begehen „Tarifflucht“ und absentieren sich aus den Arbeitgeberverbänden – vor allem im Osten und in den Dienstleistungsbranchen. Die Tarifverträge sind dann für sie nicht mehr verbindlich. Sie können jeden Dumpinglohn zahlen, für den sich noch eine willige Arbeitskraft findet.

Die Gewerkschaften fürchten nun, dass die Billigarbeiter demnächst weiteren Zulauf erhalten – wenn ab dem 1. Januar „Hartz IV“ greift (siehe Kasten). Denn die Union hat mit ihrer Bundesratsmehrheit durchgesetzt, dass Jobs auch dann als zumutbar gelten, wenn sie nur knapp an der Sittenwidrigkeit vorbeischrammen und also fast ein Drittel schlechter bezahlt werden als „ortsüblich“. Das war durchaus ein publizistischer Coup für die Union: Sie hat die scharfen Regeln zur Zumutbarkeit verlangt – doch angelastet wird es nun der SPD. So ähnlich lief es schon bei der Praxisgebühr im Rahmen der Gesundheitsreform, die ebenfalls von der Union durchgesetzt wurde und nun Rot-Grün angekreidet wird. Das will Rot-Grün nicht auf sich sitzen lassen und würde gern über einen Mindestlohn den freien Fall der Löhne verhindern. „Es ist dreist, wenn man Leute für 4 Euro pro Stunde schuften lässt“, sagt zum Beispiel SPD-Vize Ute Vogt, „so viel habe ich schon vor zwanzig Jahren als Schülerin bekommen.“

Allerdings sind die Gewerkschaften beim Thema Mindestlohn gespalten. Wenn der Gesetzgeber die Löhne vorgibt, werden sich noch mehr Beschäftigte fragen, warum sie Gewerkschaftsmitglied werden sollen. Der Arbeitgeberverband ist sowieso gegen jeden Mindestlohn und müsste durch Gesetzestricks zumindest teilweise entmachtet werden. In der SPD herrschen starke Zweifel, ob ein solcher Angriff gelingt: „Dann sagen die einfach, dass sie den Ausbildungspakt wieder aufkündigen.“

So umstritten wie das Thema Mindestlohn ist auch ein anderer Lieblingsgedanke der SPD: die kommunalen Beschäftigungsprojekte. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement hat noch mal erklärt, wie er sich das vorstellt – am Beispiel der Ingenieure. 70.000 sind arbeitslos; warum sollten also nicht einige von ihnen in den Schulen Naturwissenschaften unterrichten? Dafür würden sie dann neben dem Arbeitslosengeld II noch 2 Euro pro Stunde erhalten. „Die Gewerkschaftsseite war an diesen Projekten sehr interessiert“, hat Andrea Nahles beobachtet.

Die Gewerkschaftsseite sieht das etwas anders. Sie will kommunale Jobs „nur für Ausnahmen“. Zum Beispiel wenn die Arbeitslosen so überschuldet sind, dass fast jeder Zuverdienst gepfändet würde. Oder wenn sich Erwerbslose erst wieder an eine Beschäftigung gewöhnen müssen. Angesichts dieser Differenzen scheint es nicht unwahrscheinlich, dass es zu weiteren gruppentherapeutischen Sitzungen im SPD-Gewerkschaftsrat kommt.