Kredit- statt Chipkarte, bitte!

Wenn die Gesundheitsreform umgesetzt wird, rechnen Berlins Ärzte in sozial schwachen Bezirken mit weniger Patienten und mehr Krankheiten. In wohlhabenderen Gegenden bleibt man gelassen

von BEATE WAGNER

Egal ob bei Grillpartys oder im Biergarten – nach der Urlaubsfrage „Wo geht’s hin?“ gab’s in den vergangenen Wochen nur ein Aufregerthema in Berlin: die Gesundheitsreform. Ob arbeitsloser Werbetexter oder allein erziehende Senatsangestellte – alle debattieren über Arztgebühr, Zuzahlung und Zahnersatz, und das nicht ohne Grund. Obwohl endgültige gesetzliche Regelungen erst für den Herbst angekündigt sind, steht fest, dass ab nächstem Jahr vor allem eine Gruppe verstärkt blechen wird: die Patienten.

Davon gibt es in Berlin mehr als in allen anderen deutschen Großstädten: Im bundesweiten Vergleich sind die Berliner häufiger krank – und kränker – als andernorts. Die AOK Berlin ermittelte für 2002 einen Krankenstand von 6,5 Prozent, bundesweit waren nur 5,2 Prozent ihrer Versicherten krankgemeldet.

Berlinweit wird die geplante Gesundheitsreform unterschiedliche Auswirkungen haben. So ist für den Weddinger Allgemeinmediziner Wolfgang Conzelmann klar, dass in seinem verarmten Bezirk durch eine Praxisgebühr viele Patienten wegbleiben und sich Krankheiten so verschleppen werden. „Langfristig kommt das die Gesellschaft viel teurer“, so der niedergelassene Arzt. Betroffen sind dann vor allem Menschen, die mangels Kenntnis auch bei schwerwiegenden Krankheiten nicht den Arzt aufsuchen oder sich mit künftig freigegebenen, nicht mehr rezeptpflichtigen Medikamenten selbst therapieren. Außerdem ärgert sich Conzelmann über den immensen Verwaltungsaufwand, der durch das Abkassieren der Patienten auf die Praxen zukommen werde. „Viele Leute werden kein Bargeld dabeihaben, wir Ärzte müssen es dann hinterher eintreiben, nur um es dann weitergeben zu müssen“, so der Praktiker.

Auch die Internistin Sabine Regling, die in ihrer Praxis am Helmholtzplatz in Prenzlauer Berg viele Obdachlose und Sozialhilfeempfänger betreut, sieht schwarz. „Es wird ein Chaos, und unsere Bevölkerung wird langfristig sehr krank“, so die Hausärztin, die zusätzlich zu ihrem Praxisalltag einmal wöchentlich mit einem Arzt-Mobil der Caritas Berliner Suppenküchen anfährt und Bedürftige medizinisch versorgt.

Seit langem behandelt die engagierte Medizinerin auch in ihrer Praxis einige Patienten umsonst. Diese sind entweder nicht gesetzlich versichert, oder die Behandlungen übersteigen das begrenzte Individualbudget der Ärztin, sodass der Preis für die einzelne Leistung wieder sinkt. Ihre Aufgabe als Ärztin stand für Regling immer im Vordergrund, doch bald „zieht sich die finanzielle Schlinge“ auch für sie zu. Regling warnt vor amerikanischen Verhältnissen, wo klinische Studien deshalb „so beliebt sind, weil Leute da kostenlos durchgecheckt werden. Mit Humanität und Solidarität hat das alles nichts mehr zu tun“, so die Hausärztin. Seit längerem denkt Regling selbst über einen Wechsel ins britische Medizinalsystem nach.

Auch die Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, Heidi Knake-Werner (PDS), sieht in der verabredeten Reform „einen weiteren Schritt zur Aushöhlung der paritätischen Finanzierung und zur Schwächung des Solidarprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung“. „Die Versicherten zahlen zu viel und erhalten dafür zu wenig“, kritisiert sie und prophezeit, dass „die Absenkung der Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung durch den Verzicht auf strukturelle Reformen schon bald wieder aufgebraucht sind“.

„Für maximal vier bis fünf Jahre werden die Vorschläge Luft machen“, schätzt auch der Internist Holger Strohscheer aus Frohnau. Obwohl die künftige finanzielle Beteiligung seine Patienten weniger belasten wird als Kranke in Neukölln oder Wedding, scheint ihm „ein Eintrittsgeld sehr zweifelhaft“. „Das ist eine Notlösung, um eine neue Geldquelle anzubohren“, meint Strohscheer. Er erwartet außerdem eine Verschärfung der Zweiklassenmedizin, die „bereits jetzt schon überall praktiziert wird“.

Eine Schmerztherapeutin im Süden Berlins, die nicht namentlich genannt werden möchte, sieht in dem Reformpaket zwar „keinen großen Wurf“, hält die Vorschläge als Übergangslösung aber für durchaus geeignet. „Wenn eine Gebühr die hohen Kosten des ‚Doktorhoppings‘ eindämmen kann und sich die Zahl der banalen Infekte in der Praxis reduziert, finde ich das sogar sehr sinnvoll“, so die Ärztin. Sie weiß, dass zumindest die Patienten aus Zehlendorf und Steglitz bereit sind, auch ein bisschen mehr aus der eigenen Tasche beizusteuern.

Regine Held, Vorstandsmitglied der Berliner Ärztekammer und niedergelassene HNO-Ärztin aus Weißensee, glaubt indes nicht an einen Rückgang des „unerwünschten Doktorhoppings, da das häufig ein bestimmter Typ Patient ist, den so eine Gebühr nicht schockt“. Dennoch erwartet sie einen Einbruch bei den Patientenzahlen. Viele Bewohner Weißensees, das einen Rentneranteil von rund 60 Prozent hat, seien schon jetzt so verunsichert, dass sie sich die Arztbesuche „künftig so lange wie möglich verkneifen werden“. Die Ärztekammer begrüße es, wenn auch die Bevölkerung sich angemessen an den Kosten beteiligt. Funktionieren wird das Helds Meinung nach jedoch nur, wenn der erwartet hohe bürokratische und personelle Aufwand verhindert werden könnte.