Im Winkel lässig zutzeln

Der Strohhalm und seine Legenden. Eine sommerliche Entmythologisierung

Kinder nehmen den Strohhalm im Sommer auf der Straße in den Mund, um lässig zu wirken

Der Strohhalm gilt zwar in der Weltliteratur auf den ersten Blick als Accessoire und Akzidens, als belangloses Requisit, das schon in der Bibel in größerer Ansammlung bloß das Bett Bethlehems bilden darf und im Grunde noch nicht einmal dort der näheren Erwähnung wert befunden wird; aber bereits auf den zweiten Blick rappelt sich der Strohhalm zumindest in der mittelitalienischen Romankunst fast machtvoll auf und gewinnt eine gewisse Detailgröße, so etwa bei Catanecci und Manzini, dort vornehmlich als malices Icon für widerspenstige Damen, die „strohartiges Haar“ tragen, das heißt eine Frisur, die ausschaut, als sei sie aus Strohhalmen geflochten.

Geflochten wird der Strohhalm beziehungsweise das einfache Stroh seit geraumer Zeit gern zu Kränzen, die an Haustüren hängen und im Verbund mit Strohblumen (Kornblumen et al.) irgendetwas Jahreszeitspezifisches symbolisieren (Erntedank wohl). Abseits dessen spielt der Strohhalm im literarischen Hausschatz des Bürgers indes keine überzeugende Rolle. In Grimms Märchen „Strohhalm, Kohle und Bohne“ erweist sich der Strohhalm als handfester Versager, über dessen verdientes Schicksal (er verbrennt) dann hier auch nicht weiter diskutiert werden soll.

Dennoch eignet dem Strohhalm jenseits der „Bildungssphäre“ (L. Bubner) ein erstaunlicher, generationenspezifischer Bonus-Ruf. Kinder nehmen den Strohhalm im Sommer auf der Dorfstraße in den Mund, um lässig zu wirken. So wie der berühmteste Strohhalmzutzler Lucky Luke, der zwangsweise der Zigarette abschwören musste und seither stets einen Halm im Mundwinkel spielen lässt. Der Strohhalm wandert von einem Mundwinkel zum anderen und wieder zurück. Damit vergeht die Zeit. Vielleicht versucht man sogar, durch den Strohhalm auf die Straße zu spucken.

Heute wehrt ein Verein namens „Strohhalm“ der sexuellen Gewalt, und gespuckt wird einfach so. Der Strohhalm ist also nicht mehr besonders à la mode – obschon er als sprichwörtlicher Strohhalm, der letzte Rettung verheißen soll, der Presse unvermindert als Bild dient, um höchste Gefahr zu bezeichnen, wo nichts Rettendes mehr wächst (Firmenpleiten usw.).

Um den Strohhalm ist es folglich, trotz einiger zäh sich erhaltender populärmythischer Konnotationen, insgesamt nicht gut bestellt. Das kann man wirklich so sagen. Ein allerletztes Strohhalmmythologem harrt gleichwohl noch der finalen Entzauberung. Seit fünfzig Jahren heißt es, ein gut gezapftes Bier brauche siebeneinhalb Minuten. Und so falsch und verderblich diese unaufgeklärte Auffassung ist, so irreführend ist die Behauptung, das Bier holze beziehungsweise knalle besser, wenn man es durch einen Strohhalm einsauge.

Seit fünf Tagen mache ich das. Ich bin nicht pervers geworden; eine ekelhafte Infektion verbietet das Ansetzen des Bierglases an die Lippen. Zuerst habe ich einen Plastikstrohhalm mit drei Millimeter Durchmesser benutzt, um das Getränk an den wunden Lippen vorbeizuschleusen. Ein schönes, befederndes Rauschgefühl stellte sich selbst beim dritten Glas nicht ein, obwohl das normal gewesen wäre. Dann nahm ich einen wesentlich dickeren Halm mit Knickmanschette, um den Sauerstoffdurchfluss zu erhöhen und die Aufnahme des Alkohols zu verbessern. Resultat: null. Resignation: komplett.

So oder so, dessen sei man versichert, sieht es allerdings obendrein „ziemlich“ behämmert und unziemlich aus, Bier mit Strohhalm zu trinken, vor allem an öffentlicher Stätte. Ich bleibe deshalb jetzt vorerst zu Haus. Ernüchtert. Der dionysische Mythos Strohhalm ist erledigt, rettungslos. JÜRGEN ROTH