Der erste Verlierer

Iban Mayo wollte die Tour gewinnen. Nun hat ihn ein Sturz früh schon aller Chancen beraubt. Das gestrige Mannschaftszeitfahren gewann das Team von Lance Armstrong, der nun auch Gelb trägt

AUS WASQUEHAL SEBASTIAN MOLL

Iban Mayo wollte sich nur noch verkriechen. Doch der Sportliche Leiter seiner Mannschaft Euskaltel, Julian Gorospe, überzeugte ihn im Ziel in der nordfranzösischen Kleinstadt Wasquehal davon, doch noch einmal aus dem Mannschaftsbus zu steigen. Mit noch immer blutender Hüfte trat der gestürzte Tour-Mitfavorit vor das Fahrzeug und wandte sich zuerst an das Fernsehen seiner baskischen Heimat. In seiner baskischen Muttersprache teilte Mayo seinen Landsleuten Trauriges mit: „Ich habe heute die Tour verloren. Das tut weh.“

Iban Mayo war vor dieser Tour von nicht wenigen als der Mann angesehen worden, der Lance Armstrong und Jan Ullrich ihr schönes Duell verderben könnte. Im vergangenen Jahr hatte der 26-Jährige Erstaunen ausgelöst, als er den legendären Anstieg nach L’Alpe d’Huez so flink hinaufgestiefelt war, dass Armstrong und Ullrich ihm nur noch erschrocken hinterherschauen konnten. Den „Riesen-Töter“ nannte ihn ein amerikanisches Fach-Magazin danach. Er wurde Gesamtsechster der Tour und für dieses Jahr nahm er sich daraufhin „etwas Großes“ vor, wie er sagte. Und in diesem Frühjahr sah es ganz danach aus, als sei er zu etwas Großem auch tatsächlich fähig: Beim Bergzeitfahren der Dauphine Libere, dem klassischen Vorbereitungsrennen auf die Tour, wiederholte er seinen Coup und fuhr Armstrong um zwei Minuten davon.

Hinzu kam, dass auch die Streckenführung der diesjährigen Tour für den gut aussehenden Basken mit dem wehenden Haar zu sprechen schien. Ein Zeitfahren ist in diesem Jahr in ein Bergzeitfahren umgewandelt worden, was dem Kletterspezialisten ebenso entgegenkommt wie die dichte Folge schwerer Bergetappen der letzten Tour-Woche. Doch gestern endeten die Hoffnungen Mayos jäh an einem Weizenfeld in der „Hölle des Nordens“, der Gegend der grausamen traditionellen Frühjahrsrennen des Radsports.

Um sich vor diesen Rennen zu verneigen, hatte die Tour in diesem Jahr einige der berühmten Kopfsteinpflasterabschnitte der „Königin der Klassiker“, Paris–Roubaix, in ihre Streckenführung eingebaut. Viele Favoriten hatten nicht wenig Angst vor diesen Abschnitten, und so war das Gedrängel in der Anfahrt zu diesen Sektoren groß – jeder wollte als Erster auf die „Pavés“, um freie und somit sichere Fahrt zu haben. In diesem Gedrängel verhakte sich Mayo mit einem Kollegen. „Alle haben Angst vor den Pavés gehabt“ sagte Johan Bruyneel, Leiter von Armstrongs Mannschaft US Postal. „Es ist ironisch, dass es Mayo schon vor dem ersten Pavé erwischt hat.“

Allerdings zögerten die Postler nicht, Kapital aus der Situation zu schlagen. Die beiden Klassikerspezialisten der Mannschaft, George Hincapie und Vjatcheslaw Ekimov, spannten sich an die Spitze des Feldes und drückten auf das Tempo. Eine zunächst umstrittene Aktion, zumal Armstrong im vergangenen Jahr die Tour gewann, nachdem Ullrich auf ihn gewartet hatte. Doch die Anstandsregeln des Radsports verlangen nur, dass man auf das gelbe Trikot wartet – am Dienstag, war man sich einig, hatten Armstrong, Ullrich und Tyler Hamilton nicht unfair gehandelt, als sie dem gefallenen Basken um vier Minuten davonfuhren.

„Das ist normal“, sagte etwa Laurent Jalabert, der Gewinner des Bergtrikots von 2001 und 2002. „Die Tour ist ein unbarmherziges Spiel.“ Auch Mayo selbst war nicht verbittert: „Ich weiß nicht, wie ich gehandelt hätte, wäre Armstrong gestürzt“, sagte er. Vermutlich wäre die Versuchung für ihn ebenso groß gewesen, wie sie das am Dienstag für Armstrong, Ullrich und Hamilton war.

Am Dienstagabend, mit noch blutenden Schürfwunden und einer geschundenen Rennfahrer-Seele, vermochte Mayo noch nicht wieder nach vorne zu schauen: „Im Moment leide ich sehr.“ Doch sein Sport-Direktor Julian Gorospe wollte schon unmittelbar nach dem Rennen nichts davon wissen, dass die Tour für Euskaltel nun gelaufen sei. „1999“, erinnerte er, „ist Alex Zülle auch ganz früh in der Tour gestürzt und hat mehr als fünf Minuten verloren.“ Doch der Sturz weckte Zülle auf und ließ ihn in der Folge eine grandiose Tour fahren, bei der er am Ende Zweiter wurde. Einen ähnlichen Effekt, glaubt auch Laurent Jalabert, könnte der Sturz nun auf Mayo haben: „Seine Situation ist klar: Er muss jetzt attackieren.“

Armstrong, Ullrich und Hamilton haben im Pas-de-Calais Mayo zwar knapp vier Minuten abgenommen. Vielleicht haben sie sich damit jedoch einen Gegner geschaffen, der aggressiver und gefährlicher ist, als ihnen lieb sein kann.