Porträt eines leidensfähigen Mannes

„Ne me libérez pas, je m’en charge“ von Fabienne Godet ist dem Ausbrecherkönig Michel Vaujour gewidmet (Forum)

17 Jahre in Einzelhaft – wie überlebt man das? Im Falle des französischen Ausbrecherkönigs Michel Vaujour rettet die Obsession, freikommen zu wollen. So erzählt der heute 54-jährige Mann, nie habe er sich ablenken lassen. In der Zelle ein Buch zu lesen oder dergleichen wäre für ihn einer Sünde gleichgekommen.

Gesprochen hat er gleichfalls kaum. Stumm zu bleiben und nichts zu wollen, das waren seine Strategien, sich dem Zugriff der Wärter zu entziehen. Die waren für ihn ohnehin nur „abstrakte Repräsentationen“ des feindlichen Systems. Vaujour plante seine Fluchten – minutiös und immer wieder aufs Neue.

Tatsächlich gelangen ihm vier spektakuläre Ausbrüche – zuletzt 1986 aus einem Pariser Gefängnis, mit dem Helikopter, geflogen von seiner Frau. Der französische Justizapparat rächte sich für Vaujours waghalsige Raffinesse und überhäufte ihn mit immer mehr Strafjahren. Am Ende bekam der Mann, der mit 18 Jahren ein Auto klaute und später zum bewaffneten Raub überging, 27 Jahre. Seit 2003 ist er auf Bewährung entlassen. Er ist in sein Heimatdorf in der Marne zurückgekehrt.

Das Filmporträt „Ne me libérez pas, je m’en charge“ von Fabienne Godet kümmert sich nicht um die Leidtragenden von Vaujours krimineller Energie. Die Frage nach Schuld und Sühne bleibt ungestellt, auch eine gesellschaftliche Einordnung des berühmten Exhäftling findet nicht statt. Godet geht es allein um die Persönlichkeit Vaujours. In langen Gesprächen gewinnt sie sein Vertrauen und nimmt die Zuschauer mit in die anarchische Welt eines überaus stolzen und leidensfähigen Mannes. Wie sich so ein Leben anfühlen muss, bleibt gleichwohl unfassbar. Greifbar wird stattdessen Vaujours Radikalität. Heute ist er radikal dankbar, endlich frei zu sein. Ebenso unerbittlich zeigt er seine Verwundungen.

Welche Erfahrungen, fragt Godet zuletzt, haben sich so in Ihren Kopf und in Ihr Fleisch gebohrt, dass sie bleiben werden? Er blickt sie leicht erschrocken an, lächelt und bleibt stets auf der Hut: Der Moment, in dem die Kugel in meinen Kopf eindrang, antwortet er, und die Liebe zu meiner Frau. Die Kamera zoomt an sein Gesicht heran, zeigt seine Tränenspuren. Das ist großes Pathos. Doch angesichts der Tragik dieses Menschen scheint die Geißelung von Voyeurismus schnöde. Wer keine Neugier verspürt, sich diese Lebensgeschichte anzuschauen, werfe den ersten Stein. INES KAPPERT

„Ne me libérez pas, je m’en charge – My Greatest Escape“. R: Fabienne Godet. Frankreich 2009, 107 Min.; 8. 2., 16.45 Uhr, Cinestar; 9. 2., 17.30 Uhr, Arsenal; 10. 2., 22.30 Uhr, Cubix