Hört doch auf, ihr Jammerlappen!

Eine Polemik von Ralph Bollmann

Im Prinzip wussten alle, wie es geht. „Die Zeit der Zumutungen beginnt“, jubelte der Spiegel gleich beim rot-grünen Wahlsieg 1998. Steuervorteile müssten „radikal beseitigt werden“, forderten die schlauen Redakteure, Arbeits- und Sozialämter seien „zusammenzulegen“ und „indische Computer-Experten in Deutschland zu beschäftigen“. Außerdem müsse die neue Regierung offen bekennen, „dass sie das gegenwärtige Rentensystem auf Dauer nicht mehr halten kann“.

So sahen es die meisten Journalisten. Auch den Wählern war klar, dass alles anders werden muss. Deshalb probierten sie es ja nach 16 Jahren Helmut Kohl zur Abwechslung mal mit Rot-Grün.

Ausgerechnet jenes Erneuerungsprogramm, das damals alle wollten, liest sich sechs Jahre wie eine Chronik des rot-grünen Scheiterns. Inzwischen hat die Schröder-Regierung fast alles gemacht oder zumindest versucht, was Wählerschaft und Medien damals verlangten. Und sie wird von Wählerschaft und Medien dafür bestraft.

Gewiss: Besonders schlau haben sich die Koalitionäre dabei nicht angestellt. Den demografischen Faktor, den sie jetzt unter neuem Namen wieder einführten, hatten sie nach der verlorenen Wahl erst mal abgeschafft. Über das Zuwanderungsgesetz verhandelten sie so lange, bis der günstige Augenblick in Zeiten der New Economy und eines nahezu wahlfreien Jahres verstrichen war. Die Sozialreformen präsentierten sie nicht als zukunftsweisendes Konzept, sondern als Notoperation. So schludrig wurde sie von Doktor Schröder und Kollegen ausgeführt, dass über den schmerzhaften Eingriff die Krankheit selbst bald ganz vergessen war.

Allein: Welcher Zahnarzt hätte je so sanft gebohrt, dass sich die Patienten voller Freude auf den Behandlungsstuhl begäben? Hätte die Regierung alles richtig gemacht – es ginge ihr zur Zeit kaum besser. Wie zuletzt bei der Europawahl werden allerorten auf dem Kontinent die Regierenden schon dafür abgestraft, dass sie regieren. Ob rechts oder links, spielt dabei keine Rolle.

So ist das Jammern übers rot-grüne „Handwerk“ nichts anderes als wohlfeiler Selbstbetrug von Wählern oder Journalisten. Man hat jahrelang gegen Schlupflöcher im Steuerrecht gewettert – und braucht jetzt eine Ausflucht, warum man die Zulage fürs eigene Häuschen im Grünen dennoch verteidigen darf. Man hat oft genug geklagt, in Deutschland gingen die Menschen zu häufig zum Arzt – und ist empört, dass der Gang in die Praxis plötzlich zehn Euro kostet.

Freilich leidet Kanzler Gerhard Schröder am öffentlichen Liebesentzug mehr als jeder andere, hat er sich doch zu Beginn seiner Amtszeit den kurzfristigen Stimmungen des Publikums so sehr ausgeliefert wie kein Kanzler vor ihm. Er musste umso schmerzlicher erfahren, was der italienische Politikberater Niccolò Machiavelli schon vor fünfhundert Jahren wusste: An Neues glaubten die Menschen nicht eher, so der Florentiner, als bis sie es „mit Händen greifen können“. Zur Reformblockade neigten all jene Bürger, „die sich in der alten Ordnung wohl befinden“. Und das sind in Deutschland noch immer ziemlich viele.