Schmelztiegel für Seelen

Die spanischen Inszenierungskünstler La Fura dels Baus montierten einen futuristischen Dr. Faust in die Bochumer Jahrhunderthalle. Ein riesiger Zylinder füllt die ehemalige Krupp-Gebläsehalle

„Diese Aufführung ist ein Gruß und eine Hommage an das Ruhrgebiet“

VON PETER ORTMANN

Das Leben pulsiert in einem motorischen Zylinder – es geht endlos auf und ab. In seinem Innern werden Seelen mit ihrem Körper verschmolzen, der sich nun dem Hub stellen muss, bis ein Kolbenfresser die Synthese beendet.

Dieser riesige Welt-Zylinder steht in der Bochumer Jahrhunderthalle. Er ist Bühnenbild und Projektionsfläche für Videoeinspielungen zugleich. Die katalanische Theater-Avantgarde La Fura dels Baus hat ihn entwickelt, bespielt und so die grandiose Aufführung von Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ möglich gemacht. Auch wenn der Begriff „Musik im Industrieraum“ in den letzten Jahren inflationär benutzt wurde, diese Opern-Inszenierung trifft des Pudels Kern bei der Realisierung von Aufführungen in ehemaligen Industriekathedralen. Alles an der Triennale-Premiere war stimmig, selbst der Wechsel von grauer Abenddämmerung in schwarze Nacht, der sich über dem Spiel hinter den klaren Deckenfenstern vollzog.

Auf der Bühne steht ein Mensch im weißen Arbeiter-Outfit. Auf seinem Rücken eine silbrige Flasche, in der Gießmaterial für‘s tägliche Ego schwappt. Dr. Faust hadert mit seiner Existenz. Eine Sonnenfinsternis kündigt sich an, die Natur spielt Vorbote unerhörter Vorgänge. Dann bricht der leuchtende Zylinder auf und Faust gleich gekleidete Menschen stürmen heraus, die Flaschen auf dem Rücken. Sie wollen die Eklipse bewundern, bevor sie die Ego-Maschine von Metropolis befüllen. Gigantische Leitern und Röhren werden hereingefahren und montiert. Der Zylinder erwacht als Schmelz-Ofen zum Leben. Schlangen bilden sich. Mensch für Mensch befüllen sie artig den Moloch aus ihren Flaschen. Leiber, Gegenstände und „Verweile Augenblick“ sinken in ihm zusammen, werden in dem Tiegel verschmolzen. Nur Faust stürmt an seinen Leidensgenossen vorbei. Stürzt sich selbstmörderisch in die Röhre, wird verschmolzen und in seine persönliche Trias aufgespalten – aus der Gussform entsteigt erst der Geist, der stets verneint, Méphistophélès, sein zweites Ich. Der in Jamaika geborenen Bassbariton Sir Willard White ist schick und schwarz gekleidet. Eine wunderbare Besetzung. In Figur, Stimme und Ausstrahlung wird er zum bedrohenden Widerpart des amerikanischen Tenors Paul Groves, der die Wandlung des Faust zum Jünger des Bösen selbst exzellent verkörpert. Ihre Treibgase finden sie im SWR Sinfonieorchester, das von Sylvain Cambreling geleitet wird. Die Einheit von Musik, Gesang und visuellem Aberwitz lässt oft minutenlang vergessen, dem Übersetzungs-Laufbändern zu folgen, zu intensiv prallen die Eindrücke aufeinander, werden Auge und Ohr unbewusst vom Gehirn abgekoppelt.

Méphistophélès erfüllt Faust jeden Wunsch, „den sehnend du erdenkst“. So begibt sich der Zweifelnde auf den Trip seines Lebens. Nikotin, Alkohol, Opium. Die Dosen wollen gesteigert sein. Faust reist durch die eigenen inneren Welten, und findet seine Seele – und die ist weiblich. Um das ewig Weibliche als zweite Abspaltung Fausts zu manifestieren, wird der Maschinen-Moloch noch einmal in Betrieb genommen und eine weitere Gießform gefüllt. Ihr entsteigt die reine Maguerite, in Person der stimmlich und schauspielerisch glänzend aufgelegten schwedischen Mezzosopranistin Charlotte Hellekant. Maguerite gibt der schwebenden Existenz des Faust wieder ein Ziel. Seine Seele muss gerettet werden, wenn er auch mit seinem zweiten Ich in der Hölle braten wird. Dafür hat Berlioz ein apokalyptisches Schluss-Crescendo vorgesehen, mit dem Cambreling die Hülle der Jahrhunderthalle zum Beben bringt, bevor Stille von der Rettung der Seele des Faust kündet.

Das Licht erlischt und donnernder Applaus breitet sich aus. 1.200 Menschen sind begeistert. Dieser Abend war das kulturelle Glanzlicht dieser Triennale-Saison. In einer Region, die in letzter Zeit wieder häufiger als Provinz gehandelt wurde. „Diese Aufführung ist ein Gruß und eine Hommage an das Ruhrgebiet“ sagte Gerard Mortier bereits strahlend bei der Einführung im Foyer. So sollte der restaurierte Industrieraum an Rhein und Ruhr auch in Zukunft bespielt werden, dann wird auch jede Kritik am Modell RuhrTriennale verstummen müssen. Denn diese Qualität steht nicht in Konkurrenz zu irgend etwas. Ganz im Gegenteil.